Grabesstille
irgendwelche Botschaften geschickt zu haben.« Mit behandschuhten Händen hob Jane den ersten Umschlag auf, adressiert an Mrs. Mary Gilmore. Der Brief war in Boston abgestempelt, der Absender fehlte. Jane schüttelte den Inhalt heraus – ein einzelnes Blatt Papier. Es war eine Kopie der Todesanzeige von Joseph S. Gilmore, 25, umgekommen bei dem Blutbad, das ein Selbstmörder in einem Restaurant in Chinatown angerichtet hatte. Hinterlässt seine Mutter Mary und seine Schwester Phoebe Morrison. Totenmesse in St. Monica. Jane drehte das Blatt um und sah einen einzigen Satz, geschrieben in Blockbuchstaben.
Ich weiß, was wirklich passiert ist.
»Es ist die gleiche verdammte Botschaft, die ich bekommen habe«, sagte Mark. »Der gleiche Mist, den wir jedes Jahr bekommen. Nur dass es bei mir die Todesanzeige meines Vaters ist.«
»Und ich bekomme die von Dina«, fügte Patrick leise hinzu.
Jane griff nach dem Umschlag, der an Patrick Dion adressiert war. Darin fand sie eine Kopie der Todesanzeige von Dina Mallory, 40, umgekommen zusammen mit ihrem Ehemann Arthur bei der Schießerei im Red Phoenix. Hinterlässt eine Tochter aus erster Ehe, Charlotte Dion. Auf der Rückseite stand derselbe Satz wie in Mary Gilmores Brief.
Ich weiß, was wirklich passiert ist.
»Detective Ingersoll hat uns gesagt, dass der Briefumschlag eine Standardausführung ist, wie sie millionenfach in Schreibwarenläden verkauft wird«, erklärte Mark. »Die Tinte ist die gleiche, die man in jedem Billigkugelschreiber findet. Das Labor hat in den Umschlägen mikroskopisch kleine Stärkepartikel gefunden, ein Hinweis darauf, dass der Absender Latexhandschuhe trug, und die Briefmarken wie auch die Umschläge sind selbstklebend, sodass es keine DNS gibt. Jedes Jahr habe ich so ein Ding im Briefkasten, immer am gleichen Tag. Am dreißigsten März.«
»Dem Tag des Massakers«, sagte Jane.
Mark nickte. »Als ob irgendjemand uns an dieses Datum erinnern müsste.«
»Und die Handschrift?«, fragte Jane. »Ist sie immer gleich?«
»Immer dieselben Blockbuchstaben. Dieselbe schwarze Tinte.«
»Aber die Botschaft ist dieses Jahr anders«, sagte Mrs. Gilmore. Sie sprach so leise, dass ihre Bemerkung fast unterging.
Frost, der ihr am nächsten stand, fasste sie behutsam an der Schulter. »Was meinen Sie damit, Ma’am?«
»All die Jahre stand da immer: Wollen Sie nicht die Wahrheit wissen? Aber dieses Jahr ist es anders. Dieses Jahr heißt es: Ich weiß, was wirklich passiert ist. «
»Letzten Endes ist es doch derselbe Quatsch«, meinte Mark. »Bloß ein bisschen anders formuliert.«
»Nein, der Sinn ist dieses Jahr ein ganz anderer.« Mrs. Gilmore sah Jane an. »Wenn sie etwas weiß, warum lässt sie dann nicht die Heimlichtuerei sein und verrät uns, was die Wahrheit ist?«
»Wir alle kennen die Wahrheit, Mrs. Gilmore«, sagte Patrick geduldig. »Wir kennen sie seit neunzehn Jahren. Ich vertraue voll darauf, dass das Boston PD wusste, was es tat, als es den Fall zu den Akten legte.«
»Aber wenn die Polizei sich nun geirrt hat?«
»Mrs. Gilmore«, sagte Mark, »diese Briefe haben nur einen einzigen Zweck: unsere Aufmerksamkeit auf diese Frau zu lenken. Wir wissen alle, dass sie nicht ganz richtig im Kopf ist.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Frost.
»Patrick, erzähl ihnen, was du über Mrs. Fang herausgefunden hast.«
Der ältere Mann schien mit der Antwort zu zögern. »Ich weiß nicht, ob es nötig ist, darauf näher einzugehen.«
»Wir würden es gerne hören, Mr. Dion«, sagte Jane.
Patrick sah auf seine Hände, die in seinem Schoß ruhten. »Vor einigen Jahren, als Detective Ingersoll sich zum ersten Mal mit diesen Briefen befasste, sagte er mir, dass Mrs. Fang an – nun ja, an Größenwahn leide. Sie glaubt, dass sie von einem alten Kriegergeschlecht abstammt. Sie glaubt, es sei ihre heilige Pflicht als Kriegerin, den Mörder ihres Mannes ausfindig zu machen und Rache zu üben.«
»Können Sie sich das vorstellen?« Mark lachte. »Das klingt wie etwas aus einer chinesischen Seifenoper. Diese Frau ist vollkommen meschugge.«
»Sie ist eine Kampfkunstmeisterin«, sagte Frost. »Ihre Schüler glauben jedenfalls an sie, und man sollte doch meinen, dass die merken würden, wenn sie es mit einer Schwindlerin zu tun hätten.«
»Detective Frost«, sagte Patrick, »wir behaupten ja nicht, dass sie eine Schwindlerin ist. Aber Sie müssen doch zugeben, dass ihre Behauptungen mehr als nur ein bisschen absurd klingen. Ich weiß, dass die
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