Grabesstille
Dunkelheit erwacht zum Leben. Überall ist Bewegung. Eine Ratte, die durch eine Gasse huscht. Das Plätschern des Wassers, das aus einer Regenrinne fließt. Ich sehe alles, höre alles. Der Mann neben mir nimmt nichts davon wahr; er glaubt, es sei seine Gegenwart, die mich beschützt. Nie käme er auf die Idee, dass es vielleicht umgekehrt sein könnte.
Wir biegen in die Hudson Street ein und stehen vor meinem bescheidenen Reihenhaus, das seinen eigenen ebenerdigen Eingang hat. Während ich meinen Schlüsselbund hervorhole, bleibt er im gelblichen Schein der Außenbeleuchtung stehen, wo Insekten kreisen und mit leisem Ticken gegen die Glühbirne fliegen. Er ist ein Gentleman bis zum Schluss, und er wird warten, bis ich sicher im Haus bin.
»Danke für das Essen und den bewaffneten Geleitschutz«, sage ich und lächele.
»Wir wissen noch nicht, was hier eigentlich vor sich geht. Also seien Sie bitte vorsichtig.«
»Gute Nacht.« Ich stecke den Schlüssel ins Schloss und erstarre plötzlich. Es ist mein erschrockenes Einatmen, das ihn alarmiert.
»Was ist?«
»Sie ist nicht verschlossen«, flüstere ich. Die Tür ist nur angelehnt. Schon ist Zheng Yi aus der Scheide und liegt in meiner Hand; ich kann mich gar nicht erinnern, ihn gezogen zu haben. Mein Herz pocht, als ich die Tür mit dem Fuß anstoße. Sie schwingt ganz auf, und dahinter sehe ich nur Dunkelheit. Ich will hineingehen, doch Detective Frost zieht mich zurück.
»Warten Sie hier«, befiehlt er. Mit gezogener Waffe tritt er ein und schaltet das Licht an.
Von der Tür aus beobachte ich, wie er durch meine bescheidene Wohnung schleicht, vorbei an dem braunen Sofa, an dem gestreiften Sessel, den James und ich vor so vielen Jahren gekauft haben, als wir frisch aus Taiwan gekommen waren. Möbel, die zu ersetzen ich nie übers Herz gebracht habe, weil mein Mann und meine Tochter darauf gesessen haben. Selbst in den Möbeln sind die Geister geliebter Menschen noch präsent. Während Frost weiter in die Küche geht, stelle ich mich in die Mitte des Wohnzimmers, atme die Luft ein und lasse den Blick schweifen. Er bleibt am Bücherregal haften. Auf dem leeren Bilderrahmen. Angst durchzuckt mich.
Jemand ist hier gewesen.
Aus der Küche kommt Frosts Stimme: »Wie sieht es aus – ist alles unverändert?«
Ich gebe keine Antwort, sondern gehe langsam zur Treppe.
»Iris, warten Sie«, sagt er.
Aber ich eile bereits mit lautlosen Schritten die Stufen hinauf. Es ist mein Herzschlag, der wie Donner dröhnt, als das Blut in meine Glieder, in meine Muskeln gepumpt wird. Ich packe meinen Säbel mit beiden Händen, als ich auf meine Schlafzimmertür zugehe.
Vertreibe die Wolken und erblicke die Sonne.
Ich schnuppere und weiß sofort, dass der Eindringling in diesem Zimmer gewesen ist, wo er den Geruch seiner Aggressionen hinterlassen hat. Ich kann mich nicht dazu durchringen, hineinzugehen und meinem Feind gegenüberzutreten. Schon höre ich Detective Frost die Treppe heraufkommen. Er hält mir den Rücken frei, aber es ist das, was vor mir liegt, wovor ich mich fürchte.
Benutze die sieben Sterne, um den Tiger zu reiten.
Ich trete genau in dem Moment über die Schwelle, als Frost das Licht einschaltet. Mit einem Blick erfasse ich die schockierende Wahrheit. Das fehlende Foto liegt auf meinem Kopfkissen, durchbohrt von einer Messerklinge, die es an Ort und Stelle hält. Erst als ich höre, wie Frost eine Nummer in sein Handy tippt, drehe ich mich zu ihm um.
»Was tun Sie da?«, frage ich.
»Ich rufe meine Partnerin an. Das muss sie wissen.«
»Rufen Sie sie nicht an. Bitte. Sie haben ja keine Ahnung.«
Er sieht mich an, und die plötzliche Intensität seines Blicks lässt mich erkennen, dass ich ihn unterschätzt habe. »Und Sie?«
14
Jane stand in Iris Fangs Schlafzimmer und starrte auf das Foto, das mit einem Fleischermesser durchbohrt war. Es zeigte eine wesentlich jüngere Iris, die übers ganze Gesicht strahlte und einen Säugling auf dem Arm hielt.
»Sie sagt, das Messer stammt aus ihrer eigenen Küche«, sagte Frost. »Und das Baby ist ihre Tochter Laura. Das Foto sollte eigentlich im Wohnzimmerregal in einem Rahmen stecken. Der Einbrecher hat es ganz bewusst herausgenommen und hier platziert, wo sie es unmöglich übersehen konnte.«
»Oder vielmehr die Botschaft. Wer ihr ein Messer ins Kopfkissen sticht, will ihr ganz bestimmt nicht angenehme Träume wünschen. Was steckt da wohl dahinter?«
»Sie weiß es nicht.« Er senkte die Stimme, sodass
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