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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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sie.
    »Ich weiß es nicht, Ma’am«, antwortete einer der Streifenpolizisten. »Sie können ja selbst nachsehen.«
    War er absichtlich so wenig hilfsbereit? Seine neutral distanzierte Miene verriet nichts. Als sie unter dem Plastikband hindurchschlüpfte und auf die Haustür zuging, hörte sie die Männer lachen und fragte sich, ob es ihr galt. Ob es ihr in Zukunft an jedem Tatort so ergehen würde, ob man ihr von nun an überall mit diesen Blicken, diesem Getuschel und dieser kaum verhohlenen Feindseligkeit begegnen würde. An der Haustür blieb sie stehen, um sich Überschuhe anzulegen, und achtete dabei sorgfältig darauf, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, um ihnen nicht noch mehr Anlass für höhnisches Gelächter zu liefern. Als sie sich wieder aufrichtete, ging die Tür auf, und Detective Tam stand vor ihr.
    »Dr. Isles. Tut mir leid, dass wir Sie zu dieser späten Stunde herausklingeln mussten.«
    »Sind beide Opfer im Haus?«
    »Der eine liegt in der Küche. Das zweite Opfer befindet sich ein paar Blocks weiter in einer Gasse.«
    »Wie kommt es, dass die zweite Leiche so weit von der ersten entfernt ist?«
    »Der Mann wollte flüchten, und Rizzoli hat ihn verfolgt. Ganz offensichtlich ist sie nicht so leicht abzuschütteln.«
    Tam führte sie durch den Hausflur. Ihre Überschuhe raschelten bei jedem Schritt, als sie ihm in die Küche folgte, wo sie zu ihrer Überraschung den Leiter des Bostoner Morddezernats neben Barry Frost stehen sah. Es kam nicht oft vor, dass Lieutenant Marquette sich an einem Tatort blicken ließ, und sein Erscheinen verriet ihr, dass dies kein gewöhnlicher Mordfall war – falls man bei einem Mord überhaupt von »gewöhnlich« sprechen konnte.
    Das Opfer lag auf der Seite auf dem Fliesenboden, mit dem Gesicht in einer halb getrockneten Blutlache. Es war ein korpulenter weißer Mann in den Siebzigern, bekleidet mit hellbrauner Hose, Strickhemd und dunklen Socken. Ein Fuß steckte noch in einem Hausschuh. Die Schusswunde in seiner linken Schläfe ließ kaum einen Zweifel an der Todesursache. Maura ging nicht sofort auf den Leichnam zu, sondern blieb einen Moment in der Tür stehen und suchte den Fußboden nach einer Waffe ab. Sie sah keine Pistole in der Nähe der Leiche. Kein Selbstmord.
    »Er war Polizist«, sagte Jane leise.
    Maura hatte sie nicht kommen hören. Sie drehte sich um und starrte Janes blutbespritzte Bluse an. Statt ihres gewohnten dunklen Hosenanzugs trug Jane eine ausgebeulte Jogginghose – offenbar eine spontane Notlösung.
    »Mein Gott, Jane.«
    »Hier ist es ziemlich zur Sache gegangen.«
    »Bist du unverletzt?«
    Jane nickte und sah auf den Toten hinunter. »Aber ihn hat’s erwischt.«
    »Wer ist er?«
    Es war Lieutenant Marquette, der antwortete. »Detective Lou Ingersoll. Er war beim Morddezernat und ist vor sechzehn Jahren in Rente gegangen. Er war einer der unseren, Dr. Isles. Er hat es verdient, dass wir unser Bestes geben.«
    Wollte er etwa andeuten, dass sie bei diesem Opfer nicht ihr Bestes geben würde? Dass eine Rechtsmedizinerin, die gegen den Korpsgeist der Polizei verstoßen hatte, auch diesen Cop verraten würde? Mit glühenden Wangen ging sie neben der Leiche in die Hocke. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihr einfiel, woher sie den Namen kannte. Lou Ingersoll.
    Sie sah zu Tam auf. »Das war doch der Mann, der in dem Massaker im Red Phoenix ermittelt hat.«
    »Du hast schon von ihm gehört?«, fragte Jane.
    »Detective Tam und ich haben uns darüber unterhalten, als er mir die Obduktionsberichte vorbeibrachte.«
    Jane wandte sich zu Tam um. »Ich wusste gar nicht, dass Sie sich an Dr. Isles gewandt hatten.«
    Tam zuckte mit den Achseln. »Ich wollte nur ihre Meinung hören. Ich wollte wissen, ob nicht vor neunzehn Jahren irgendetwas übersehen wurde.«
    »Detective Rizzoli?« Einer der Kriminaltechniker stand in der Küchentür, einen Kopfhörer um den Hals gehängt. »Wir sind mit einem Frequenzscanner durch das Zimmer gegangen, und Sie hatten recht. Da kommt eindeutig ein Signal von seinem Festnetzanschluss.«
    »Ein Signal?« Marquette sah Jane fragend an.
    »Ingersoll glaubte, dass jemand seine Telefonate abhörte«, erklärte Jane. »Ehrlich gesagt, ich bin ein bisschen überrascht, dass wir tatsächlich etwas gefunden haben.«
    »Warum sollte jemand sein Telefon anzapfen?«
    »Sicher nicht aus den üblichen Gründen. Er war seit achtzehn Jahren verwitwet, also gab es keinen Scheidungskrieg. Er hat eine Tochter, und die weiß von gar

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