Grabesstille
Bruchteil davon wahr war …«
»Was denn zum Beispiel?«
Er sah sie an. »Glaubst du an Geister?«
»Mit wie vielen Toten hatten wir es in unserem Job schon zu tun? Wenn es Geister wirklich gäbe, müssten gerade wir doch irgendwann schon mal einen gesehen haben.«
»Jades Urgroßmutter hat gesagt, in China gäbe es überall Geister. Sie meinte, das läge daran, dass China schon so alt ist, dass Millionen und Abermillionen Seelen von Verstorbenen dort herumschwirren. Und die müssten ja irgendwo bleiben. Wenn sie nicht im Himmel sind, dann müssen sie hier auf der Erde sein, überall um uns herum.«
Jane bremste an einer Ampel. Während sie auf Grün wartete, überlegte sie, wie viele Seelen von Verstorbenen wohl diese Stadt bevölkerten. Wie viele wohl gerade an dieser Stelle hier weilten, wo die zwei Straßen sich kreuzten. Wenn man sämtliche Toten zusammenzählte, Jahrhundert für Jahrhundert, dann war Boston gewiss die reinste Geisterstadt.
»Die alte Mrs. Chang hat mir Sachen erzählt, die vollkommen verrückt klangen, aber sie hat daran geglaubt. Geschichten von heiligen Männern, die übers Wasser gehen konnten. Von kämpfenden Mönchen, die durch die Luft fliegen und sich unsichtbar machen konnten.«
»Klingt, als hätte sie zu viele Kung-Fu-Filme gesehen.«
»Aber jede Legende muss doch irgendeinen wahren Kern haben, meinst du nicht? Vielleicht sind wir hier im Westen einfach zu voreingenommen, um zu akzeptieren, was wir nicht verstehen können. Dabei gibt es auf dieser Welt so viel mehr, als wir alle ahnen. Hast du nicht auch dieses Gefühl, wenn du in Chinatown bist? Dort frage ich mich die ganze Zeit, was ich alles nicht sehe – die ganzen verborgenen Hinweise, für die ich blind bin. Ich gehe in einen von diesen verstaubten Kräuterheiler-Läden und sehe dieses komische getrocknete Zeugs in Gläsern. Für uns ist das alles fauler Zauber, aber was ist, wenn diese Mittelchen tatsächlich Krebs heilen können oder machen, dass man hundert Jahre alt wird? Die chinesische Kultur ist fünftausend Jahre alt. Da muss sich doch einiges an Wissen angesammelt haben. Geheimnisse, die sie uns nie verraten werden.«
Im Rückspiegel konnte Jane sehen, dass Tams Wagen direkt hinter ihnen war. Sie fragte sich, was er wohl von diesem Gespräch halten würde; ob ihn dieses Gerede von den exotischen und mysteriösen Chinesen beleidigen würde. Die Ampel sprang auf Grün.
Während sie über die Kreuzung fuhr, sagte sie: »Ich würde das Tam gegenüber lieber nicht erwähnen.«
Frost schüttelte den Kopf. »Ja, er wäre vermutlich sauer. Dabei ist es ja nicht so, als ob ich ein Rassist wäre, oder? Ich bin schließlich mal mit einem chinesischen Mädchen gegangen.«
»Genau das würde er wahrscheinlich gar nicht so toll finden.«
»Ich versuche doch nur zu verstehen – mich zu öffnen für die Dinge, die wir nicht sehen können.«
»Was ich nicht sehen kann, ist, wie das alles zusammenhängt. Eine tote Frau auf dem Dach. Ein Amoklauf, der Jahre zurückliegt. Und jetzt Ingersoll, der etwas von einem Minibus faselt, der davon redet, dass sein Haus observiert wird. Und von irgendwelchen Mädchen.«
»Warum wollte er es dir nicht am Telefon sagen? Was denkt er, wer da mithören könnte?«
»Das wollte er nicht verraten.«
»Wenn jemand schon davon spricht, dass sein Telefon angezapft wird, dann blinken bei mir immer gleich die Paranoiker-Warnleuchten auf. Hattest du den Eindruck, dass er unter Verfolgungswahn leidet?«
»Er klang besorgt. Und er hat eine ›sie‹ erwähnt. Er sagte, er habe versprochen, sie da rauszuhalten.«
»Iris Fang?«
»Ich weiß es nicht.«
Frost blickte auf die Straße hinaus. »Ein ehemaliger alter Cop wie er ist doch bestimmt bewaffnet. Wir sollten da lieber ganz behutsam rangehen. Damit wir ihn nicht erschrecken.«
Fünfzehn Minuten später hielt Jane vor Ingersolls Haus, und Tam parkte direkt hinter ihr. Sie stiegen aus, und man hörte drei Wagentüren gleichzeitig zuschlagen. In dem dreistöckigen Wohnhaus brannten die Lichter, doch als Frost an der Tür klingelte, machte niemand auf. Er klingelte noch einmal und klopfte ans Fenster.
»Ich rufe ihn an«, sagte Jane und tippte Ingersolls Nummer in ihr Handy ein. Sie konnten sein Telefon irgendwo in der Wohnung läuten hören. Vier Mal, dann sprang der Anrufbeantworter an, und sie hörte die knappe Ansage: Bin nicht zu Hause. Bitte Nachricht hinterlassen.
»Ich kann da drin nichts erkennen«, sagte Tam, der durch die
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