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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Absperrband hindurch und ging davon, vorbei an dem Team der Spurensicherung. Erst als sie einen Block vom Tatort entfernt war, spürte sie, wie ihre verkrampften Nackenmuskeln sich allmählich lockerten. Das legt sich wieder, Maura , hatte Jane gesagt, aber würde es das? Polizisten hatten ein gutes Gedächtnis. Sie erinnerten sich an Details von Fällen, die Jahrzehnte zurücklagen, und sie waren nachtragend, vergaßen nie, wer auf ihrer Seite oder auf der Gegenseite gestanden hatte. Ich werde immer zur zweiten Kategorie gezählt werden, dachte sie. Noch in zwanzig Jahren werden sie sich daran erinnern, dass ich geholfen habe, einen Polizisten ins Gefängnis zu bringen.
    Als sie wieder bei Ingersolls Haus ankam, waren inzwischen noch weitere Einsatzfahrzeuge eingetroffen. Sie blieb stehen, geblendet von den grellen Lichtern und verwirrt von der Hektik um sie herum. Plötzlich übertönte das Schluchzen einer Frau das Geschnatter der Polizeifunkgeräte.
    »Lassen Sie mich zu ihm! Ich muss meinen Vater sehen!«
    »Ma’am, bitte. Sie können da nicht rein«, sagte ein Streifenpolizist und hielt die Frau zurück. »Es wird so bald wie möglich jemand rauskommen und mit Ihnen sprechen.«
    »Aber er ist mein Vater ! Ich habe ein Recht zu erfahren, was mit ihm passiert ist.«
    »Pater Brophy!«, rief der Polizist. »Könnten Sie bitte dieser Dame helfen?«
    Ein hochgewachsener Mann mit einem Priesterkragen bewegte sich ruhig durch die Menge. Als Polizeigeistlicher des Boston PD wurde Daniel Brophy häufig zu Schauplätzen von Tragödien gerufen, und so war Maura nicht überrascht, ihn hier zu sehen. Dennoch machte sein Anblick sie betroffen. Sie beobachtete mit gierigen Blicken, wie Daniel Ingersolls Tochter von der Polizeiabsperrung wegführte. Sah er dünner aus? War sein Gesicht gezeichnet, sein Haar grauer als früher? Fehle ich dir auch so sehr, wie du mir fehlst?
    Er geleitete die schluchzende Frau zu einem Streifenwagen, und dann entdeckte er plötzlich Maura. Ihre Blicke trafen sich, und sie nahm nichts mehr wahr außer Daniel, spürte das Trommeln ihres eigenen Herzens, wild und verzweifelt wie das Flattern eines sterbenden Vogels.
    Sie starrte ihm immer noch nach, als er weiterging und den Kopf der weinenden Frau an seiner Schulter barg.

19
    Jane stand vor dem Leuchtkasten im Sektionssaal und betrachtete die Röntgenaufnahmen des toten Mannes. Die Skelettstrukturen wirkten völlig normal, bis auf ein Detail, das sofort ins Auge sprang: Der Schädel war nicht mehr mit dem Rest des Körpers verbunden – sauber abgetrennt zwischen dem dritten und vierten Halswirbel. Tam und Frost standen bereits am Tisch und warteten auf den Beginn der Obduktion, doch Jane rührte sich nicht von der Stelle; sie war noch nicht bereit, sich dem Anblick dessen zu stellen, was dort unter dem Tuch lag. Röntgenaufnahmen waren etwas Abstraktes, eine Art Zeichentrick-Anatomie in Schwarz-Weiß. Sie sahen nicht aus wie Fleisch und rochen auch nicht so; sie hatten kein Gesicht. Und so hielt sie sich länger als nötig damit auf, studierte eingehend die Schatten von Lunge und Herz. Es war dieses Herz, das am Abend zuvor ihre Kleider mit Blut bespritzt hatte. Hätte mein namenloser Retter nicht eingegriffen, dachte sie, dann würden jetzt meine Röntgenaufnahmen hier hängen. Es wäre meine Leiche, die dort auf dem Tisch läge.
    »Jane?«, sagte Maura.
    »Eine Klinge, die scharf genug ist, um so etwas mit einem einzigen Hieb zu bewerkstelligen – das ist wirklich schwer vorstellbar«, entgegnete Jane, den Blick immer noch auf den Röntgenfilm gerichtet.
    »Es ist eine Frage der Anatomie«, sagte Maura. »Es geht um den Winkel, in dem die Klinge auf das Gelenk trifft. Im Mittelalter konnte ein geschickter Scharfrichter einen Verurteilten mit einem einzigen Streich enthaupten. Wenn er mehrfach auf den Nacken einhacken musste, war das ein deutliches Zeichen dafür, dass er das Handwerk nicht beherrschte. Oder betrunken war.«
    »Ein angenehmes Bild so früh am Morgen«, meinte Tam.
    Maura zog mit einer raschen Handbewegung das Tuch weg. »Wir haben ihn noch nicht entkleidet. Ich bin davon ausgegangen, dass ihr dabei sein wollt.«
    Nein, ich will nicht hier sein, dachte Jane. Ich will das nicht sehen. Unter Aufbietung all ihrer Willenskraft drehte sie sich zum Tisch um. Und obwohl das, was dort lag, für sie keine Überraschung mehr war, hielt sie beim Anblick des abgetrennten Kopfs erschrocken die Luft an. Noch wusste sie nichts über diesen

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