Grabesstille
Rahmen seiner Möglichkeiten. Wenigstens waren sein weißes Golfhemd und die Kakihose frei von Ketchupflecken. Nach einem Herzinfarkt vor einigen Jahren hatte er dank einer Herz-Kreislauf-Diät fast fünfzehn Kilo abgenommen, doch inzwischen zeigte seine Gewichtskurve wieder langsam, aber stetig nach oben, und trotz des neu gestanzten Lochs konnte der Gürtel seine Leibesfülle kaum noch bändigen.
»Es ist für eine Ermittlung«, sagte Jane. Sie klappte das Buch zu, in dem sie gelesen hatte, heilfroh, das Bild von Sun Wukong nicht länger ansehen zu müssen.
»Ja, hab davon gehört. Schon wieder so eine bizarre Geschichte. Angefangen hat’s mit der toten Frau auf dem Dach, stimmt’s? Ha, da würd ich am liebsten selbst wieder im Sattel sitzen.«
Jane sah seinen Bauch an und dachte nur: Das arme Pferd, das dich tragen muss.
Korsak ließ sich in den Sessel plumpsen – den Sessel, der immer für Janes Vater reserviert gewesen war. Es war ein komisches Gefühl, ihn auf Frank Rizzolis altem Stammplatz thronen zu sehen, doch ihr Vater hatte jegliches Anrecht auf diesen Platz verwirkt, als er Angela verlassen hatte und mit seiner Tussi zusammengezogen war. So wurde sie inzwischen von allen genannt, obwohl sie genau wussten, wie die Frau hieß. Sandie Huffington – Sandie mit »ie«. Jane wusste alles über die Tussi, und sie wusste auch, wie viele Strafmandate sie in den vergangenen zehn Jahren kassiert hatte: drei Stück. Wegen der Tussi saß Vince Korsak jetzt in diesem Sessel, dick und zufrieden dank Angelas Kochkünsten.
Auf welche Weise Angela ihn sonst noch glücklich machte, darüber mochte Jane gar nicht erst nachdenken.
»Chinatown«, grunzte Korsak. »Seltsame Gegend. Aber gutes Essen.«
Typisch, dass er zuerst ans Essen dachte. »Was ist dir noch von der Schießerei im Red Phoenix in Erinnerung?«, fragte sie. »Du musst doch damals die Gerüchte mitbekommen haben.«
»Das war echt eine üble Geschichte. Warum sollte ein Kerl mit einer süßen kleinen Tochter vier Leute erschießen und sich dann selbst das Gehirn wegpusten? Ich hab’s nie verstanden.« Er schüttelte den Kopf. »Und so ein liebes Mädchen. Ein richtiges Papakind.«
Das überraschte sie. »Du hast die Familie des Kochs gekannt?«
»Nicht so richtig, aber ich habe öfter dort gegessen. Diese Chinesen, die wissen ja gar nicht, was Urlaub ist, also war das Restaurant immer geöffnet, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Da konnte man auch nach der Spätschicht noch was zu essen bekommen. Einmal war ich am Sonntagabend um zehn dort, und das kleine Mädchen hat mir meine Glückskekse gebracht. Das grenzt ja schon an Kinderarbeit. Aber sie machte den Eindruck, dass sie froh war, bei ihrem Papa sein zu dürfen.«
»Bist du sicher, dass sie die Tochter des Kochs war? Sie muss damals noch sehr klein gewesen sein.«
»War sie auch. Vielleicht fünf Jahre, würde ich schätzen. Ein richtig süßer Fratz.« Er seufzte betrübt. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ein Vater so etwas tun würde – eine Frau und ein kleines Kind zurückzulassen. Ganz zu schweigen von den ganzen anderen Familien, die er zerstört hat. Ein paar Wochen später wurde die Tochter eines der Opfer entführt.«
»Charlotte Dion?«
»Hieß sie so? Ich weiß nur noch, dass es wie in einer griechischen Tragödie war. So nach dem Motto: Ein Unglück kommt selten allein.«
»Aber weißt du, was wirklich merkwürdig ist?«, sagte Jane. »Zwei Jahre zuvor war auch ein Kind eines anderen Opfers entführt worden – die Tochter des Kellners. Sie verschwand spurlos auf dem Heimweg von der Schule.«
»Ohne Scheiß? Das hab ich nicht gewusst.« Korsak dachte eine Weile darüber nach. »Das ist ja richtig unheimlich. Da fragt man sich doch, ob das wirklich nur Zufall sein kann.«
»Als ich mit Detective Ingersoll telefonierte, sagte er ganz am Schluss noch etwas von irgendwelchen Mädchen. Was mit diesen Mädchen passiert ist. Das waren seine Worte.«
»Meinte er diese zwei Mädchen? Oder andere?«
»Ich weiß es nicht.«
Er schüttelte den Kopf. »Jetzt sind seitdem schon so viele Jahre vergangen, und wir zerbrechen uns noch immer den Kopf darüber. Komische Vorstellung, dass sie inzwischen wahrscheinlich nur noch Skelette sind.« Er hielt inne. »Aber über so was will ich heute Abend eigentlich gar nicht nachdenken. Schenken wir uns ein Glas Wein ein.«
»Ich dachte, du trinkst nur Bier.«
»Deine Mutter hat mich bekehrt. Wein ist sowieso besser für die olle
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