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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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gestellt wird, entscheidet sich der Affenkönig fast immer für das, was gut und richtig ist.«
    Jane starrte das Foto auf Erins Computerbildschirm an. Das Gesicht, das ihr noch vor wenigen Augenblicken einen Schauer über den Rücken gejagt hatte. »Dann ist er also gar nicht böse«, sagte sie.
    »Nein«, bestätigte Tam. »Trotz seiner Fehler, trotz des Chaos, das er manchmal verursacht, steht der Affenkönig auf der Seite der Gerechtigkeit.«

20
    Der würzige Duft von Brathähnchen und Rosmarin drang aus Angela Rizzolis Küche, und aus dem Esszimmer, wo der ehemalige Detective Vince Korsak gerade den Tisch deckte, war das Klappern von Besteck und Geschirr zu hören. Draußen im Garten lachte und kreischte Janes Tochter Regina auf der Schaukel, angeschubst von Gabriel. Aber Jane nahm von alledem nichts wahr – sie saß auf dem Sofa ihrer Mutter und brütete über einem halben Dutzend Bänden aus der Leihbücherei, die aufgeschlagen vor ihr auf dem Couchtisch lagen. Literatur über asiatische Primaten und Hanuman-Languren – und über Sun Wukong, den Affenkönig. Sie fand heraus, dass die Abenteuer des Sun Wukong nicht nur in Büchern auftauchten, sondern auch den Stoff für Spielfilme, chinesische Opern, Ballette und sogar eine Fernsehserie für Kinder bildeten.
    In einer Sammlung chinesischer Märchen fand Jane eine Einführung in die Legende. Zwar waren die Geschichten im sechzehnten Jahrhundert von einem chinesischen Schriftsteller namens Wu Cheng’en aufgeschrieben worden, doch die Erzählungen selbst waren uralt und gingen angeblich auf ein Zeitalter der Geister und der Magie zurück; ein Zeitalter, in dem Götter und Ungeheuer sich im Himmel und auf der Erde bekriegten.

    Und einer der Felsen jener Erde, ein Felsen, der seit Anbeginn der Schöpfung vom milden Hauch des Windes umweht war, beglänzt vom Mondschein, der Gunst des Göttlichen, gebar einst ein steinernes Ei. Und aus diesem steinernen Ei wurde ein steinerner Affe. Er konnte laufen und springen und klettern, ein Affe mit Augen, aus denen Lichtstrahlen entsprangen, so leuchtend hell, dass selbst der Jadekaiser im Himmel erschrak.
    Der steinerne Affe, der weder Vater noch Mutter hatte, wurde bald König aller Affen. Sie lebten in vollkommener Eintracht, bis der Affenkönig eines Tages begriff, dass der Tod sie alle erwartete. Und so zog er aus, das Geheimnis der Unsterblichkeit zu lernen; eine Reise, die ihn in den Himmel führte, in Versuchungen und Missetaten und schließlich in Gefangenschaft. Während er zu seiner eigenen Hinrichtung schritt, wo er in einem Schmelztiegel mit alchemischen Flammen verbrannt werden sollte, entsprang der Affenkönig, und in seinem Kampf ums Überleben stellte er den ganzen Himmel auf den Kopf, bis die Götter gezwungen waren, ihn im Berg der Fünf Elemente einzuschließen.
    Dort harrt er in steinerner Dunkelheit durch die Jahrhunderte aus, bis zu dem Tag, an dem er gebraucht wird. Einem Tag, an dem das Böse in der Welt ist und der Affenkönig sein Gefängnis verlassen muss, um sich in die Schlacht zu werfen.
    Jane blätterte um und erblickte eine Darstellung von Sun Wukong mit einem langen Kampfstab in der Hand. Obwohl es nur eine Zeichnung war, stellten sich beim Anblick des Affenkönigs die Härchen an ihren Armen auf. Sie starrte den schwarzen Mund mit den spitzen Zähnen an, den Kranz aus silbernen Haaren, und sie konnte den Blick nicht abwenden.
    Sie erinnerte sich an einen Nachmittag im Zoo, als sie sechs Jahre alt gewesen war. Ihr Vater hatte sie hochgehoben, damit sie die Klammeraffen sehen konnte. Kaum hatten die Affen sie erblickt, als im Käfig ein fürchterliches Chaos ausbrach und die Affen kreischend von Ast zu Ast sprangen, als hätten sie den Teufel selbst gesehen. Sogleich kam ein Zoowärter angerannt und rief den Leuten zu: »Zurück, treten Sie zurück! Ich weiß nicht, was sie so erschreckt!« Aber als Janes Vater sie von diesem Käfig voller kreischender Affen wegtrug, wusste sie genau, dass sie selbst es war, vor der die Tiere solche panische Angst hatten. Was hatten sie gesehen? Doch nur ein sechsjähriges Mädchen mit dunklen Locken. Oder war da noch etwas anderes, was diese Affen damals schon erkannt hatten? Etwas, was damit zu tun hatte, wer und was sie eines Tages sein würde?
    »Na, wie kommst du voran mit deinen Affenbüchern?«
    Beim Klang von Korsaks Stimme fuhr sie erschrocken hoch. Er hatte sich richtig in Schale geworfen für das Dinner bei Angela Rizzoli – jedenfalls im

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