Grabesstille
Telefon. Stattdessen setzte sie Teewasser auf und nahm am Küchentisch Platz, um noch einen Blick in ihre ausgeliehenen Bücher zu werfen. Die Abbildung des Affenkönigs starrte ihr entgegen; bedrohlich schwenkte er seinen Stab in der Faust, und fast scheute sie davor zurück, das Buch anzufassen, um die nächste Seite aufzuschlagen.
Neuntes Kapitel: Die Geschichte von Chen O.
Die große Stadt Chang’an war lange Zeit die Hauptstadt von ganz China. In jenen Tagen saß Tai Tsing aus der Tang-Dynastie auf dem Thron. Im ganzen Land herrschte Frieden.
Mit dieser einnehmenden Idylle begann die Geschichte über einen tugendhaften und gelehrten jungen Mann namens Chen O. Nachdem er eine wunderschöne junge Frau geheiratet hatte, wurde er zum Statthalter einer entlegenen Region ernannt. Zusammen mit seiner schwangeren Braut und ihren Dienern trat er die Reise durch üppig blühende Landschaften zu seinem neuen Posten an. Doch als die Reisegruppe einen Flussübergang erreichte, wurde sie von Banditen überfallen, und hier schlug die reizende Erzählung unvermittelt in den blutrünstigen Bericht von einem Massaker um. Vorbei war es mit der lieblichen Legende; stattdessen las Jane von Panik und Todesschreien, von den Leichen der Hingemetzelten, die in den reißenden Fluss geworfen wurden. Nur ein Mensch wurde in dieser Nacht nicht abgeschlachtet: die schwangere junge Frau, die von den Räubern ihrer Schönheit wegen entführt und gefangen gehalten wurde, während sie die Geburt ihres dem Tode geweihten Kindes erwartete.
Das Pfeifen des Teekessels riss Jane aus ihrer Lektüre. Sie blickte auf und sah, wie Gabriel das Gas abdrehte und das kochende Wasser in die Teekanne goss. Sie hatte ihn gar nicht hereinkommen hören.
»Na, ist es spannend?«, fragte er.
»Mann, das ist ein richtig gruseliges Buch«, sagte sie und schüttelte sich. »Diese Geschichten würde ich ganz bestimmt nie meinem Kind vorlesen. Zum Beispiel die hier, ›Die Geschichte des Chen O‹. Da geht es um ein Massaker an einem Flussübergang, wo die einzige Überlebende eine schwangere Frau ist, die von den Mördern gefangen genommen wird.«
Er brachte die Teekanne an den Tisch und setzte sich ihr gegenüber. Den ganzen Abend war er schon auffallend still gewesen, und jetzt, im hellen Licht der Küchenlampe, bemerkte sie auch die tiefe Falte zwischen seinen Augenbrauen.
»Ich weiß, ich kann dich nicht umstimmen, was diesen Fall betrifft«, sagte er. »Ich will nur noch einmal meine Bedenken zum Ausdruck bringen.«
Sie seufzte. »Ist angekommen.«
»Jane, ich kriege dieses Bild einfach nicht aus dem Kopf. Wie du ausgesehen hast, als du neulich abends nach Hause kamst. Vollkommen verstört, deine Kleider über und über mit Blut bespritzt. So geschockt habe ich dich nicht mehr erlebt, seit …«
Er sprach den Namen nicht aus, doch sie wussten beide, dass er an das Monster dachte, das sie damals zusammengebracht hatte. An den Mann, der die Narben an ihren Händen hinterlassen hatte, und dessen blutige Fußspuren sich immer noch durch ihre Albträume zogen.
»Du hast aber nicht vergessen, womit ich mein Geld verdiene?«, sagte sie.
Er nickte. »Und ich habe gewusst, dass es Tage wie diesen geben würde. Mir war nur nicht klar, wie schwer es sein würde, damit zu leben.«
»Hast du es schon einmal bereut?«, fragte sie leise.
»Dass ich eine Polizistin geheiratet habe?«
»Dass du mich geheiratet hast.«
»Also …« Er rieb sich das Kinn und machte übertrieben: »Hmmmmmm . Da muss ich mal scharf nachdenken.«
»Gabriel!«
Er drehte sich um, als das Telefon klingelte. »Warum musst du diese Frage stellen?«, sagte er, während er aufstand und zum Apparat ging. »Ich bereue gar nichts. Ich sag dir nur, dass es mir gar nicht gefällt, was da abläuft – und womit du es zu tun bekommen wirst.«
»Mir gefällt das auch nicht besonders«, erwiderte sie, und ihr Blick fiel wieder auf das Buch. Auf die Geschichte von Chen O. Wie beim Red Phoenix ging es hier um ein Massaker. Und um eine entführte Frau, dachte sie, als ihr Charlotte Dion einfiel.
»Jane, es ist für dich.« Gabriel stand da mit dem Hörer in der Hand, und seine Miene war besorgt. »Er will mir seinen Namen nicht nennen.«
Sie griff nach dem Hörer und spürte, wie ihr Mann sie beobachtete, als sie sich meldete. »Detective Rizzoli.«
»Ich weiß, dass Sie Fragen über mich gestellt haben, also habe ich mir gedacht, wir kommen besser gleich zur Sache. Lassen Sie uns miteinander
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