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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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auf, zu dem kunstvoll gestalteten Ziergiebel. Das ist, als ob man den Olymp erklimmt, dachte sie, als sie die Stufen hinaufstieg und die Halle betrat.
    Aus dem Gang zu ihrer Linken waren kratzige Geigentöne zu vernehmen. Sie folgte ihnen zu einem Klassenzimmer, wo ein junges Mädchen auf einem Stuhl saß und mit grimmiger Konzentration den Bogen schwang, kritisch beobachtet von einer silberhaarigen Frau.
    »Mein Gott, Amanda, dein Vibrato hört sich an wie eine Hochspannungsleitung! Ich werde ganz nervös, wenn ich dir nur zuhöre. Und du drückst der armen Geige ja schier den Hals ab. Du musst dein Handgelenk entspannen.« Die Frau ergriff die linke Hand des Mädchens und schüttelte sie kräftig. »Komm schon, lass locker!«
    Plötzlich bemerkte die Schülerin Jane und erstarrte. Die Frau drehte sich um und sagte: »Ja, bitte?«
    »Mrs. Forsyth? Wir haben telefoniert. Ich bin Detective Rizzoli.«
    »Wir sind hier gleich fertig.« Die Lehrerin wandte sich zu ihrer Schülerin um und seufzte. »Du bist heute total verspannt, da hat es gar keinen Sinn, mit der Stunde fortzufahren. Geh zurück auf dein Zimmer und mach deine Lockerungsübungen. Beide Hände. Geschmeidige Handgelenke sind das A und O für eine Geigerin.«
    Resigniert packte das Mädchen ihr Instrument ein. Sie war schon im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als sie abrupt stehen blieb und sich an Jane wandte. »Sie sagten, Sie sind Detective. Sind Sie bei der Polizei oder so was?«
    Jane nickte. »Boston PD .«
    »Das ist ja voll cool. Ich will mal FBI -Agentin werden.«
    »Nur zu. Die können durchaus mehr Frauen gebrauchen.«
    »Tja, erzählen Sie das mal meinen Eltern. Die sagen, Polizeiarbeit ist was für andere Leute«, murmelte sie und schlurfte zur Tür hinaus.
    »Ich fürchte, aus diesem Mädchen wird nie eine gute Musikerin«, meinte Mrs. Forsyth.
    »Soviel ich weiß, gehört Geigespielen nicht zu den Einstellungsvoraussetzungen beim FBI «, sagte Jane.
    Mit dieser ironischen Bemerkung erntete sie bei dieser Frau keine Punkte. Mrs. Forsyth bedachte sie mit einem kühlen Blick. »Sie sagten, Sie hätten einige Fragen, Detective?«
    »Ja, über ein Mädchen, das vor neunzehn Jahren Ihre Schülerin war. Sie spielte Bratsche im Schulorchester.«
    »Sie kommen wegen Charlotte Dion, habe ich recht?« Als Jane nickte, seufzte sie. »Natürlich ist es wegen Charlotte. Die eine Schülerin, die man uns einfach nicht vergessen lässt. Selbst nach so vielen Jahren macht Mr. Dion uns immer noch Vorwürfe, nicht wahr? Wir sind angeblich schuld, dass er seine Tochter verloren hat.«
    »So etwas ist für Eltern immer schwer zu akzeptieren. Das verstehen Sie doch sicher.«
    »Das Boston PD hat den Fall untersucht, und es war nie die Rede von Fahrlässigkeit seitens unserer Schule. Wir hatten mehr als genug Aufsichtspersonen bei diesem Ausflug, ein Verhältnis von eins zu sechs. Und das war schließlich kein Kindergartenausflug; es handelte sich um Teenager. Die brauchen ja nun wirklich keinen Babysitter mehr.« Halblaut fügte sie hinzu: »Obwohl das bei Charlotte vielleicht wirklich besser gewesen wäre.«
    »Wieso?«
    Mrs. Forsyth zögerte. »Es tut mir leid, das hätte ich nicht sagen sollen.«
    »War Charlotte schwierig?«
    »Ich spreche nicht gern schlecht über die Toten.«
    »Ich glaube, die Toten würden wollen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird.«
    Nach einer Weile nickte die Frau. »Ich will nur das eine über sie sagen: Sie gehörte nicht zu unseren Spitzenschülerinnen. Oh, es mangelte ihr nicht an Intelligenz, das sah man an den Noten ihres Eingangstests. Und im ersten Jahr an unserer Schule zeigte sie auch gute Leistungen. Aber nach der Scheidung ihrer Eltern ließ sie stark nach, und in den meisten Fächern schaffte sie nur mit Müh und Not die Prüfungen. Natürlich hatten wir Mitleid mit ihr, aber bei uns kommt jeder zweite Schüler aus einer Scheidungsfamilie. Die meisten schaffen es, sich mit der Situation abzufinden und nach vorn zu blicken. Aber nicht Charlotte. Sie war immer so mürrisch und verdrießlich. Es schien fast, als würde sie allein schon durch ihr permanentes Selbstmitleid das Unglück regelrecht anziehen.«
    Für eine Frau, die angeblich nicht schlecht von den Toten reden wollte, hatte Mrs. Forsyth erstaunlich wenig Hemmungen, vom Leder zu ziehen.
    »Man kann es ihr ja kaum zum Vorwurf machen, dass sie ihre Mutter verloren hat«, wandte Jane ein.
    »Nein, natürlich nicht. Das war ganz furchtbar, diese Schießerei in

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