Grabesstille
und die zerstörte Hoffnung ihrer Familie an ihrer Statt zurücklassen.
»Nett von Ihnen, dass Sie sich der Familie zuliebe so viel Mühe machen«, sagte Andy und riss mich aus meinen Gedanken.
»Nein, ist es nicht«, widersprach ich. »Ich bin hier, weil mein Chef darauf bestanden hat, und ich war nicht gerade begeistert von diesem Auftrag. Ich bin zum Spielball polizeilicher Taktik geworden. Die Polizei von Las Piernas hat neulich eine schwere Schlappe einstecken müssen –«
»Als sie versucht haben, Fehler in einer Untersuchung der Kommission für innere Angelegenheiten zu vertuschen«, sagte er und nickte. »Aber einer der Reporter des Express hat davon erfahren und sie in doppelt so schlechtem Licht erscheinen lassen.«
»Ja. Und um der Öffentlichkeit zu beweisen, dass sie prima Arbeit leisten und alles einwandfrei ist, haben die hohen Tiere beschlossen, eine Lokalreporterin über einen Fahndungserfolg berichten zu lassen – die Lösung eines alten Falls, der in der. Zeitung groß herausgestellt worden war. Der Express hat sie ohnehin bereits bedrängt, mich mitkommen zu lassen. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass sie ja sagen würden, sonst hätte ich versucht, diesen Plan zu vereiteln, bevor er so weit gediehen war.«
»Ich hätte gedacht, das sei der Traum jedes Reporters.«
»Ich mag die Berge nicht besonders.«
»Sie mögen die Berge nicht?«, sagte er entsetzt. Das war in seinen Augen eindeutig ein Sakrileg.
Ich schluckte schwer. »Früher habe ich sie geliebt. Aber – ich hatte einmal ein schlimmes Erlebnis in den Bergen.«
»Beim Trekking?«
»Nein. In einer Hütte.« Mein Mund war trocken. Ich merkte, wie meine Zunge langsam wurde und über das simple, kleine Wort Hütte stolperte.
Andy schien es nicht aufzufallen. »Aber Sie waren schon mal wandern«, sagte er verwirrt.
»Ja. Haben mich meine Sachen verraten?«
»Mhm. Die sind nicht typisch für Neulinge – nicht wie diese schwachsinnige Ausrüstung, die der Anwalt dabei hat. Die meisten Ihrer Sachen sind gebraucht – zum Beispiel Ihre Stiefel. Der Anwalt hat nagelneue Stiefel, und ich wette mit Ihnen, dass er in null Komma nichts Blasen kriegt. Sie haben zwar ein paar neue Sachen, aber nicht nur zum Angeben.«
»Es ist schon lange her, dass ich meine Wanderausrüstung benutzt habe.« Ich wollte nicht daran denken, warum.
»Dann trennen Sie es von Ihrem Erlebnis in der Hütte«, verlangte er mit der lockeren Logik der Jugend.
Bevor ich antworten konnte, rief eine tiefe Stimme von der anderen Seite der Wiese: »Ihr Botaniker bringt Ms. Kelly aus der Ruhe.«
Parrish.
Ich merkte, wie aufgrund der plötzlichen Aufmerksamkeit, die von fast allen anderen – außer seinen Wachen, von denen eine Parrish anwies, den Mund zu halten – auf mich einstürmte, mein Gesicht rot anlief.
»Tue ich das?«, fragte mich Andy. »Nein. Nein, tun Sie nicht. Durch Sie fühle ich mich hier gleich wesentlich wohler.«
Er grinste erneut.
In gewissem Sinne hatte ich ihm die Wahrheit gesagt. Wenigstens redete er mit mir und war freundlicher als die anderen. Vielleicht hatte er ja Recht, was das Trekking anging. Vielleicht würden meine Ängste nicht in gleicher Weise angefacht werden, wie es vermutlich der Fall wäre, wenn ich mit dem Auto in die Berge führe und in einer Hütte wohnte.
»Früher kannte ich mich ganz gut mit Wildblumen aus«, sagte ich und versuchte, meine Gedanken von Hütten, Handschuhfächern und Nicholas Parrish wegzusteuern. »Vielleicht können Sie mir mit den Namen von einigen Arten hier auf der Wiese auf die Sprünge helfen?«
4
MONTAG NACHMITTAG, 15. MAI
Bergland der südlichen Sierra Nevada
Schließlich verschoben wir unsere Botanikstunde. Es gab einfach zu viel zu tun, wenn wir vor Einbruch der Dunkelheit das Lager fertig haben wollten.
Ich stellte mein Zelt auf und legte meinen Rucksack hinein. Dann sah ich mich um, ob irgendjemand anders Hilfe brauchte. Ich sah Earl, den Wachmann, dessen Namen ich aufgeschnappt hatte, irgendwelche Pillen einnehmen. Ich schätzte ihn auf Ende vierzig; sein Partner war vermutlich etwas älter.
»Geht’s Ihnen gut?«, fragte ich.
»Mir?«, fragte er zurück und steckte die Pillen rasch ein. »Oh, mir fehlt nichts.« Auf meinen fragenden Blick hin fügte er hinzu: »Ich hab bloß gerade ‘ne Ohrenentzündung hinter mir. Wenn gewisse Personen davon wüssten, hätten sie mich von dieser Unternehmung fern gehalten.«
»Ich sag’s nicht weiter.«
Er grinste. »Vor
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