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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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meine Sachen zusammen und schickte mich dann an, den anderen zu helfen. Ich hatte erst wenige Schritte getan, als eine Stimme hinter mir fragte: »Sind Sie die Reporterin?«
    Ich wandte mich um und stand vor einem mageren, goldblonden jungen Mann, der mich anlächelte. Ich schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Sein Haar war kurz und borstig. Er war braungebrannt und hatte die Art von Wadenmuskulatur, die man nur bekommt, indem man die Füße über lange Strecken bewegt, entweder beim Radfahren, Laufen oder Wandern. Er trug einen kurz geschnittenen Bart und einen Ohrring im rechten Ohr.
    »Ja«, sagte ich, stellte meinen Rucksack ab und streckte die Hand aus. »Irene Kelly.«
    »Andy Stewart«, sagte er und drückte mir fest die Hand. »Ich bin der Botaniker des Teams. J. C. und ich sind mittags hier angekommen. Wir sind schon fertig. Kann ich Ihnen bei irgendwas helfen?«
    »Ich komme zurecht, aber es sieht ganz danach aus, als hätte Dr. Sheridan noch einige Sachen da drin.«
    Er schnappte sich eine zweite Segeltuchtasche und plauderte weiter mit mir, indem er mir erzählte, dass sie ein Hubschrauber des Forest Service vorhin hergebracht hätte.
    »Entschuldigen Sie die Frage, aber warum wird bei dieser Suche ein Botaniker gebraucht?«
    »Tja, jedes Mal wenn jemand wie Mr. Parrish ein Loch gräbt, anschließend etwas, das letztlich wie ein Riesenhaufen Dünger wirkt, hineinwirft und es wieder zuschüttet, lässt die Natur dies nicht unbemerkt geschehen. Die Pflanzen, die er ausgegraben hat, und die Neuen, die dort zu sprießen beginnen, das umgebende Erdreich – er hat eine Störung des bestehenden Systems verursacht. Wenn er genug Berufserfahrung hat, kann ein Botaniker lernen, die Anzeichen für eine solche Störung zu erkennen.«
    »Sie werden also dafür bezahlt, dass Sie nach Veränderungen in der Pflanzenwelt Ausschau halten?«
    Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Bezahlt? Nein, bezahlt wird keiner von uns. Ben, David und ich machen diese forensischen Arbeiten freiwillig. Ich promoviere gerade in Biologie; Ben und David unterrichten an der anthropologischen Fakultät. David kommt außerdem für Bingles Training und Ausrüstung auf. Nicht einmal J. C. bekommt es extra bezahlt, dass er mitarbeitet, obwohl er auf der Gehaltsliste des Forest Service steht, solange er hier ist.« Er machte eine kurze Pause. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich Ihnen die Frage stelle, die Sie mir gestellt haben: Was macht denn eine Reporterin hier?«
    »Gute Frage. Es gibt jede Menge Leute, hier und zu Hause, die Ihnen gern erklären würden, dass ich hier überhaupt nichts verloren habe.« Ich hielt inne und versuchte die Erinnerung an den Streit zu verdrängen, den ich vor meiner Abreise mit Frank gehabt hatte.
    »Ich will nicht, dass du mit ihm da oben bist, ganz egal, wie viele Wachen auf ihn aufpassen.«
    »Ich will auch nicht mit ihm da oben sein, aber ich kann mich von dieser Geschichte nicht lossagen, Frank.«
    »Lehn den Auftrag ab. Verdammt noch mal, Irene, diese Amputationen haben vor dem Tod stattgefunden. Weißt du, was das heißt?«
    »Hör auf«, sagte ich.
    »Es heißt«, fuhr er rücksichtslos fort, »dass diese Frauen noch am Leben waren, als er begann, sie zu verstümmeln, Irene. Am Leben.«
    »Aber Sie sind trotzdem hier«, sagte Andy »Ja. Ich kenne die Familie von Julia Sayre –«, begann ich.
    »Ist Sayre das Opfer, zu dem er uns führen will?«
    »Ja.«
    Ich bin hier, um die letzten Funken ihrer Hoffnung auszulöschen, dachte ich. Diese kleine, unsinnige Bürde der Hoffnung, die sie im Hinterkopf quälen musste wie ein Stein im Schuh.
    Meine Jahre als Reporterin hatten mich gelehrt, dass Familien sich verbissen an den kleinsten Fetzen Hoffnung klammerten, der zu finden war, an jede Möglichkeit, die sie sich ausmalen konnten. Wenn ihr Sohn in einem Flugzeug gesessen hatte, das abgestürzt war, dann fragten sie sich, ob er vielleicht den Flug verpasst oder sein Ticket einem Freund gegeben hatte.
    Die Sayres machten sich bestimmt auch solche Hoffnungen, das wusste ich, auch wenn Gillian mir nie davon erzählen würde.
    Parrishs Erklärung musste derartige Fantasien nahezu vernichtet haben. Was musste das für ein Schlag für Gillian gewesen sein. Trotzdem fragten sich die Sayres sicher, ob Parrish bluffte oder sich in der Identität seines Opfers getäuscht hatte.
    Und so blieb nun nur noch das, diese endgültige Identifizierung. Wir würden die sterblichen Überreste von Julia Sayre ausgraben

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