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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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beschlossen hatte, sich wieder zu setzen, fragte Jack: »Wissen Sie, wer Bens sonstige Freunde sind?«
    Sie runzelte die Stirn und antwortete: »Er hat einige Freunde an anderen Universitäten. Offenbar hat er nicht viel Zeit für ein Privatleben. Er – alle dachten, er würde heiraten, aber es hat nicht geklappt. Ich glaube, Camille hat es im Grunde nie richtig verstanden, wissen Sie.«
    »Camille?«, wiederholte ich, und mir fiel ein, dass Ben diesen Namen in seinem Delirium genannt hatte. »Sie hieß Camille?«
    »Ja, sie haben zusammengelebt«, antwortete sie lächelnd und offenbar erleichtert darüber, dass ich mich endlich entschlossen hatte, am Gespräch teilzunehmen.
    »Was hat Camille nicht verstanden?«, fragte ich.
    »Seine Arbeit. Die viele Zeit, die er ihr widmet. Und – und manchen Leuten gruselt es davor, glaube ich. Eigentlich wirklich schade, weil …« Ihre Stimme wurde unhörbar, doch dann sagte sie: »Vermutlich sollte ich nicht so über sein Privatleben reden.«
    »Ich versuche nicht, Ihnen seine Geheimnisse zu entlocken«, sagte ich. »Ich mache mir nur Sorgen um ihn.«
    »Ja, natürlich!«, sagte sie. »Obwohl Sie Reporterin sind … ich meine …«
    Sie begann wieder an dem Becher herumzuzupfen.
    »Wie lange ist es her, dass er sich von seiner Verlobten getrennt hat?«, wollte ich wissen.
    »Von Camille? Ich wüsste nicht, dass sie je offiziell verlobt gewesen wären«, sagte sie.
    Ich wartete.
    »Es ist jetzt schon eine Weile her«, antwortete sie, schob die Becherfetzen zusammen und erhob sich wieder. »Zu Beginn des vergangenen Semesters – also letzten Januar.«
    Jack, Frank und ich wechselten Blicke. »Aber das ist ja erst ein paar Monate her«, sagte ich.
    Sie zuckte mit den Achseln und sagte dann: »Ja, es sind wohl erst ein paar Monate.« Sie ging zum Abfalleimer. Als sie zurückkam, blieb sie stehen und starrte auf die Tür zu Bens Zimmer. Sie nahm ihren Rucksack ab, öffnete ihn und zog einen dicken Stapel Prüfungshefte heraus. Sie hielt sie mir hin und sagte: »Würden Sie mir bitte einen Gefallen tun und die Ben geben?«
    »Was ist das?«
    »Abschlussprüfungen.«
    »Ich glaube nicht, dass er in seinem Zustand –«
    »Natürlich nicht. Aber – er soll selbst entscheiden, was er tun will. Ich glaube, ich gehe jetzt. Bitte richten Sie ihm aus, dass ich hier war.«
    »Warten Sie!«, rief Frank und legte die Hefte auf den Tisch. »Wollen Sie ihn denn nicht sehen?«
    »Doch«, antwortete sie. »Aber während ich hier gesessen habe, ist mir irgendwie klar geworden, dass Ben mich nicht sehen wollen wird.« Sie runzelte erneut die Stirn. »Vielleicht sollte ich es so ausdrücken: Er wird nicht wollen, dass ich ihn sehe. Nicht, bis er ein wenig Zeit gehabt hat, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass – er hatte eine transtibiale Amputation, stimmt’s?«
    Auf unsere verständnislosen Blicke hin erläuterte sie es: »Unterhalb des Knies.«
    Wir nickten im Takt, alle reichlich perplex.
    »Na ja«, fuhr sie fort. »Ich weiß nicht alles, was es über Ben zu wissen gibt, aber ich weiß mit Sicherheit, dass er nicht scharf darauf ist, verletzlich zu wirken, und es ihm zuwider wäre, wenn irgendjemand Mitleid mit ihm hätte, aber es würde ihn vor Wut absolut überschäumen lassen, wenn jemand, den er unterrichtet, Mitleid mit ihm hätte.«
    In sanfterem Ton fügte sie hinzu: »Das mit David und alles andere, was passiert ist, macht mich so unheimlich traurig, und ich habe Angst, dass Ben das fälschlicherweise für Mitleid halten könnte. Außerdem bin ich mir in Wirklichkeit gar nicht sicher, was ich empfinde, wenn ich Ben tatsächlich verletzt oder ohne seinen Fuß vor mir liegen sehe, daher – daher glaube ich, dass es ihm gut tut, wenn Sie ihm diese Unterlagen zum Korrigieren geben, weil er das ohne Fuß machen kann, wissen Sie? Aber ich sollte lieber nicht dabei sein.«
    Bevor sich irgendeiner von diesem Vortrag erholt hatte, war sie schon verschwunden.
    »Weil er das ohne Fuß machen kann?«, wiederholte ich verdutzt.
    Jack begann vor lautlosem Lachen zu erbeben, und Frank hielt sich eine Hand vors Gesicht, um sein Grinsen zu verbergen, machte aber ein kleines, schnaubendes Geräusch. Als ich die beiden finster ansah und erklärte, ich sei sicher, dass sie es gut gemeint hatte, lachte Jack heftiger, ja, er keuchte geradezu – und wie einen die Heiterkeit oft überfällt, wenn es einem gar nicht passt, prusteten wir schließlich alle vor Lachen los.
    In diesem Moment kamen Bens

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