Grabesstille
meine Antwort wartete.
Konnte ich sie belügen?
»Polizei und Gerichtsmedizin werden mehr darüber wissen, was ihr zugestoßen ist, wenn sie dazu gekommen sind, ihre Leiche zu untersuchen«, begann ich.
»Aber Sie haben die Leiche gesehen«, beharrte sie.
»Sie war in Plastik gewickelt.«
»Oh.« Sie überlegte kurz und sagte dann: »Aber Plastik – konnten Sie etwas sehen?«
»Nein. Es war dunkelgrün. Vollkommen undurchsichtig.«
Ihre Brauen zogen sich zusammen. »Aber sie müssen es doch aufgemacht und hineingesehen haben. Wie könnten sie sonst sagen, dass die Leiche meine Mutter war?«
»Sie haben es aufgemacht, aber … aber sie wollten nicht unbedingt eine Reporterin direkt am Grab stehen haben«, erwiderte ich rasch.
Ein falsches Bild der Ereignisse, wandte mein Gewissen ein. So wahr wie möglich, entgegnete ich, aber ich wusste, dass ich mich auf unsicherem Grund bewegte. »Die Anthropologen haben ihre Bestimmungen vorgenommen«, sagte ich. »Und dann haben sie die Leiche mitsamt dem Plastik herausgehoben und in einen Leichensack gelegt.«
So weit schien sie es zu verkraften. Doch sie fragte erneut: »Woher wussten sie, dass es meine Mutter war?«
»Sie sind noch nicht ganz sicher«, sagte ich. Als ich ihre zunehmende Skepsis sah, fügte ich hinzu: »Aber es gab andere Hinweise, die es sehr wahrscheinlich machen, dass sie es war. Neben der Leiche.«
Haarspalterei, warnte die lästige Stimme.
»Was zum Beispiel?«
»Im Grab wurde ein Ring gefunden, der dem entspricht, den sie trug, und Kleidung, die mit Ihrer Beschreibung dessen übereinstimmt, was sie am Tag ihres Verschwindens anhatte.«
Grübelnd saß sie einen Moment lang da, bis sie ruhig sagte: »Tja, ich schätze, dann werde ich wohl Geduld haben müssen.«
»Gillian, ich weiß, dass die letzten vier Jahre sehr schwer für Sie und Ihre Familie waren –«
»Nein, das wissen Sie eigentlich nicht, oder?« Sie sagte es ruhig.
»Nein«, gab ich zu.
»Ich habe vier Jahre lang gewartet. Ich kann auch noch ein paar Tage oder Wochen warten oder wie lang es auch dauert, bis mir die Cops ein paar Antworten geben. Vor zwei Jahren hat ein Polizist mir einreden wollen, dass ich aufgeben soll, dass ich ihn nicht mehr belästigen und den Tatsachen ins Auge sehen soll. Er meinte, sie würden sie wahrscheinlich nie finden – es war Thompson, der Typ, der dort oben umgekommen ist. Er hat sich geirrt, oder? Sie sehen also, ich kann warten.«
Sie machte Anstalten zu gehen, wandte sich aber noch einmal zu mir um. »Ich bin Ihnen nicht böse, wissen Sie. Ich bin froh, dass Sie darüber schreiben. Das ist die Hauptsache. Vielleicht kapieren die Leute dann, dass es wichtig ist, herauszufinden, was passiert ist, wenn jemand verschwindet. Der Tod meiner Mutter war wichtig. Das müssen Sie allen klarmachen.«
Langsam stieg ich die Treppe wieder hinauf. Frank sah von seinem Buch auf und sagte: »Gerade hat Jack angerufen. Sie erlauben jetzt, dass Ben Besuch bekommt. Willst du rübergehen?«
Ben. Auf ihn musste ich mich jetzt konzentrieren. Die Lebenden, nicht die Toten. »Ja, ich muss nur noch meinen Schreibtisch aufräumen.«
Sanft hob er mein Kinn und musterte mein Gesicht. »Streng dich nicht gleich allzu sehr an, ja?«
»Mir fehlt nichts«, erklärte ich und wich zurück.
Ich habe Glück gehabt.
32
SAMSTAG, 20. MAI, FRÜHER ABEND
Las Piernas
Der Fußmarsch zum Krankenhaus war nicht lang, aber er tat mir gut. Meine Muskeln waren ein bisschen steif und verkrampft, und ich war dankbar für die Gelegenheit, mich zu strecken. Wir gingen in freundschaftlichem Schweigen dahin, verursachten jedoch einen Aufruhr, als wir uns der Halle der Klinik näherten, was mir gar nicht recht war.
Eine Gruppe Reporter stand direkt vor dem Krankenhaus beim Rauchen. Eine der Raucherinnen erkannte mich und versuchte eilig, uns abzufangen, bevor die anderen uns kommen sahen. Sie hatte kein Glück. Ein Reporter schafft es nur selten, sich ungesehen aus einer Gruppe anderer Reporter zu entfernen. Jeder, der einmal eine Tüte Popcorn neben einem Schwarm Tauben fallen lassen hat, kann sich in etwa vorstellen, wie dies aussieht – man füttert garantiert nicht nur einen Vogel.
Wir schafften es, kurz vor unserer ungebetenen Entourage die Halle zu betreten, nur um dort auf eine etwas größere Gruppe zu stoßen – ruhelose Leute, die es Leid geworden waren, in dem großen Raum zu warten, den die Klinik für die Presse bereitgestellt hatte, und die zweifellos
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