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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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Pläne ausheckten, wie sie in Bens Zimmer vorstoßen konnten, oder, falls das nicht klappte, eine Gelegenheit suchten, mit seinen Krankenschwestern, einem Pfleger oder sonst jemandem zu sprechen, der womöglich seit seiner Ankunft hier einen Blick auf ihn erhascht haben mochte.
    Ohne Rücksicht auf die anderen Patienten oder deren Familien begannen sie mich mit Fragen zu bombardieren und kamen immer näher.
    Frank schirmte mich vor den aufdringlichsten unter ihnen ab, und zum Glück wurde er von den Beamten erkannt, die die vorderste Sicherheitslinie bildeten. Mit ein bisschen Ellbogeneinsatz schoben wir uns hindurch und schafften es ohne nennenswerte weitere Schwierigkeiten bis zu einem Aufzug.
    Auf Bens Etage standen Wachleute neben dem Aufzug und im Flur. Ich hatte sie am Abend zuvor schon gesehen, fühlte mich aber von ihrer Wachsamkeit nicht besonders beruhigt. Ich begriff, dass sich irgendwo in mir die Überzeugung festgesetzt hatte, dass Wachen Parrish niemals aufhalten könnten – er war eine Kombination aus Houdini und dem Terminator. Er war entflohen, und er würde wiederkommen. Nicht jeder von der hiesigen Polizei glaubte, dass Parrish nach Las Piernas zurückkehren würde. Die meisten schienen anzunehmen, er würde an einem Ort Zuflucht suchen, wo er nicht so gut bekannt war, doch schien allgemeine Einigkeit darüber zu herrschen, dass Ben vor der Presse abgeschirmt werden musste.
    Jack saß auf einem Stuhl in einer Sitzgruppe neben der Schwesternstation und las in einer Reisezeitschrift. Bei unserer Ankunft blickte er auf, warf das Heft auf den niedrigen Glastisch vor sich und forderte uns auf, Platz zu nehmen. »Im Moment sind zwei Ärzte bei ihm«, erklärte er.
    Ganz in der Nähe war ein Wasserspender mit Styroporbechern. Frank, der sich an die Anweisungen der Ärzte erinnerte, dass ich viel Flüssigkeit zu mir nehmen sollte, füllte zwei Becher und brachte sie her. »Mal sehen, ob du mich unter den Tisch trinken kannst«, sagte er.
    Wir hörten die Glocke des Aufzugs und sahen eine junge Frau heraustreten. Sie sah aus wie Anfang Zwanzig, war mittelgroß, schlank und braun gebrannt und trug eine dünne Metallbrille. Sie hatte dunkelbraune Augen und kurze, glatte blonde Haare. Sie trug Jeans und hatte einen kleinen Rucksack aus blauem Segeltuch auf dem Rücken. Sie sprach mit dem Polizisten am Aufzug und wies sich offenbar ihm gegenüber aus. Sie drehte sich um und musterte uns einen Moment, dann runzelte sie die Stirn und ging zur Schwesternstation. Sie hatte einen Ernst an sich, der mich überlegen ließ, ob ein Verwandter von ihr auf dieser Etage behandelt wurde. Dann hörte ich sie deutlich den Namen »Ben Sheridan« aussprechen.
    Wir blickten uns alle drei an und sahen dann zu, wie die Schwester zu uns herübernickte.
    Die Frau zögerte und kam dann auf uns zu. »Die Schwester hat gesagt, Sie wollen Dr. Sheridan besuchen.«
    »Ja«, antwortete Frank. »Möchten Sie mit uns warten?«
    Sie wurde rot und sagte dann: »Danke. Ich heiße Ellen Raice. Ich bin eine der Lehrassistentinnen von Dr. Sheridan.«
    Wir stellten uns vor, und sie sagte: »Oh. Sie waren dort – ich meine, Sie haben ihn gerettet.«
    »Wir waren dort«, sagte ich und sah auf meine Hände hinab.
    Wir verfielen in peinliches Schweigen. Sie blickte zwischen Fußboden, Decke und Tisch hin und her, summte vor sich hin und trommelte eine Zeit lang mit den Händen auf ihre Schenkel. Dann stand sie auf und holte sich einen Becher Wasser.
    Als sie zurückkehrte, begannen Jack und Frank ein unverfängliches Gespräch mit ihr. Sie erzählte ihnen, dass sie Ben seit sechs Jahren kannte.
    »Ich habe ein Seminar in physikalischer Anthropologie bei ihm gemacht – physikalische, nicht kulturelle, kennen Sie den Unterschied? Ich habe das Seminar eigentlich nur gemacht, um eine allgemeine Studienvorschrift zu erfüllen«, sagte sie und zupfte kleine Fetzchen vom Rand des inzwischen leeren Styroporbechers ab. »Vor der ersten Prüfung habe ich mein Hauptfach gewechselt. Das tun viele Studenten – nur vielleicht nicht so schnell«, fügte sie hinzu, errötete und fuhr dann eilig fort. »Er ist ein fantastischer Lehrer. Die beiden besten Dozenten des ganzen Fachbereichs sind Ben und David Niles –« Sie hielt inne, sog die Luft scharf ein, stellte den Becher ab und presste sich die Finger auf die Augen. »Entschuldigen Sie mich«, murmelte sie. Dann stand sie auf und ging hin und her.
    Offenbar gewann sie den Kampf gegen die Tränen. Als sie

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