Grabesstille
dass er sich lange versteckt halten kann. Es tut mir Leid, dass er fliehen konnte.«
»Ich vermute, er hatte alles geplant. Laut dem, was sie im Fernsehen gesagt haben, können Sie von Glück reden, dass Sie mit dem Leben davongekommen sind.«
Ein unerwartetes Aufwallen von Erleichterung machte mir erst jetzt klar, dass ich wirklich Glück gehabt hatte, verdammt viel Glück! Glück, dass ich nicht unter denen gewesen war, die direkt neben dem Grab gestanden hatten, Glück, dass Parrish mich hatte gehen lassen, Glück, dass ich verschont geblieben war.
Kaum waren mir diese Gedanken in den Sinn gekommen, da reagierte mein Verstand auch schon entsetzt auf sie. Ich schämte mich, dass ich überhaupt Freude empfand, ganz egal, wie verhalten, schämte mich, dass ich überhaupt positive Gefühle im Zusammenhang mit irgendetwas hegte, was mit den vergangenen Tagen zu tun hatte.
Ja, schlimmer noch, dass ich solche Gedanken hatte, während ich neben einer jungen Frau saß, deren Mutter ermordet worden war, grausam gequält von dem Mann, der mich hatte ziehen lassen. Mein Gott, wie pervers war ich eigentlich, dass ich das Glück nannte? Gillian musste sich gefragt haben, warum – warum ihre Mutter tot war und ich noch lebte. Ich hatte keine Kinder, die auf meine Rückkehr warteten. Ich sah auf den Tisch hinab, außerstande, ihrem Blick zu begegnen.
Sie schwieg einen Moment und sagte dann: »Ich hatte gehofft, Sie könnten mir erzählen, wie meine Mutter gefunden wurde.«
Unvermittelt starrte ich auf eine entblößte, verweste Leiche vor mir. Ihr Gestank erfüllte den Raum.
»Irene?«
Die Tischplatte kam wieder in Sicht. Der Raum roch nach Zitronen-Möbelpolitur und nichts Schlimmerem. Ich holte tief Luft und gab Gillian eine massiv geschönte Schilderung der Ereignisse bis zu dem Moment, als Bingle das Grab fand. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, vom Kojotenbaum zu sprechen oder davon, wie das Grab selbst geöffnet wurde.
Sie lauschte schweigend und kommentarlos. Dann fragte sie: »War sie … war die Leiche … Sie wissen schon … nur Knochen?«
O Gott.
»Nein«, sagte ich mit schwankender Stimme. Ich schluckte schwer und rang um Worte. »Offenbar wurde sie nicht lange nach ihrem Tod begraben.«
»Aber ich habe gehört, dass manchmal Tiere …«
»Nein«, unterbrach ich sie scharf. Indem ich mich zwang, in ruhigerem Ton zu sprechen, entgegnete ich. »Die Leiche wurde nicht von Tieren beschädigt.«
»Ich weiß, es klingt brutal und abartig, so was überhaupt zu fragen«, sagte sie, »aber man hat ihre Leiche noch nicht für uns freigegeben, also – also kann ich noch gar nicht richtig damit umgehen. Wissen Sie, was ich meine? Ich muss immer wieder daran denken, wie sie dort oben lag, und daran, was er mit ihr gemacht hat, aber niemand will es mir sagen. Wissen Sie es?«
Die Polaroids in der Tüte.
Das heiße Wachs. Julias schmerzverzerrtes Gesicht, ihr zu einem Schrei geöffneter Mund.
Ich bekam keine Luft mehr. »Entschuldigen Sie mich«, stieß ich hervor. »Es ist stickig hier drin. Ich muss mal die Tür aufmachen.«
»Ich brauche jemanden, der ehrlich zu mir ist«, sagte sie zu meinem Rücken, als ich an der Tür stand, mich an den Rahmen lehnte und versuchte, genug Luft zu bekommen. Ihre Stimme kam einem Flehen so nahe wie nichts, was ich je gehört hatte. »Ich muss es wissen. Sie sind doch die ganze Zeit ehrlich zu mir gewesen. Sie kennen die Wahrheit, stimmt’s?«
Ich kannte sie genau. Aber ich würde den Teufel tun und einem Kind – auch wenn es ein inzwischen erwachsenes Kind war – erzählen, was ich auf den Fotos gesehen hatte. Ich würde lügen. Sie bildete sich vielleicht ein, die Wahrheit wissen zu wollen, aber sie war nicht darauf gefasst. Niemand war auf eine solche Wahrheit gefasst.
Es wäre unmenschlich, sie mit sämtlichen brutalen Fakten der Angelegenheit zu überfallen. Das war nicht meine Aufgabe. Nicht einmal als Reporterin. Zeitungen von gutem Ruf veröffentlichten weder grässliche Unfallfotos, noch schilderten sie die blutigen Einzelheiten des Mörderwerks. Man bewies Respekt vor den Toten und ihren Familien.
Respekt vor den Toten.
Julia Sayre – würdest du wollen, dass ich es ihr erzähle? Dieser deiner Tochter, die sich vier Jahre lang wegen einer unbedachten Bemerkung selbst gequält hat? »Ich wünschte, du wärst tot.« Sämtliche Einzelheiten, die ich ihr lieferte, würden ihre Schuldgefühle nur verstärken.
Ich drehte mich zu ihr um und sah, dass sie auf
Weitere Kostenlose Bücher