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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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weinen.
    »Ben …«
    »Ich weiß auch nicht, was sie verdammt noch mal mit ihm angestellt haben«, sagte er und wischte sich übers Gesicht. Stockend holte er Atem und sagte dann: »Mist. Ignorieren Sie diese kleine Vorstellung bitte. Es muss an den Medikamenten liegen.«
    »Oder vielleicht an dem Körperteil, der Ihnen genommen wurde.«
    »Nicht jetzt, okay?«, sagte er wütend. »Herrgott. Nicht jetzt.«
    »Okay.« Es fiel mir nicht schwer, zu kapitulieren.
    »Warum sind Sie zurückgekommen?«
    »Ellen Raice.«
    Damit erlangte er wieder die Kontrolle über sich. »Was?«
    »Sie ist vorbeigekommen. Ich versuche gar nicht erst, alles zu wiederholen, was sie gesagt hat.«
    »Sie hat Sie gebeten, mir – wissen Sie, ›gute Besserung‹ zu wünschen, stimmt’s?«, sagte er, indem er ihre Stimme und ihre Ausdrucksweise perfekt imitierte. Ich musste lachen. Er schmunzelte und sagte: »Nicht besonders nett von mir, was?«
    »Nein, aber das ist ja das Schöne, Ben, dass Sie in meiner Gegenwart nicht so zu tun brauchen, als wären Sie nett. Ich weiß, dass Sie ein Arschloch sind, erinnern Sie sich?«
    »Das ist wohl leider wahr. Ich habe jetzt erst erkannt, was Sie da haben. Sie hat die verdammten Abschlussarbeiten mitgebracht, stimmt’s?«
    »Na ja«, sagte ich und konnte der Versuchung nicht widerstehen. »Wie sie es ausgedrückt hat, ist das etwas, was Sie auch ohne Fuß machen können.«
    Sein Unterkiefer fiel herunter, und dann stieß er ein brüllendes Lachen aus. »Wenn ich mir doch nur einbilden könnte, Sie hätten das erfunden.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Soll ich die Hefte für Sie ins College zurückbringen?«
    Er zögerte und sagte dann: »Ach, was soll’s. Sie hat ja Recht. Vielleicht bin ich tatsächlich in der Lage, sie zu lesen. Sonst komme ich am Ende noch jedes Mal zu Semesterschluss mit der Ausrede, ich stünde unter Morphium.«
    Ich legte die Hefte auf den Nachttisch neben seinem Bett.
    »Dann bis morgen, Ben«, sagte ich und ging auf die Tür zu.
    »Irene – warten Sie.«
    »Brauchen Sie noch etwas?«
    »Vielleicht – vielleicht überlegen Sie sich, ob Sie mal mit Jo Robinson sprechen möchten. Nein, verziehen Sie nicht gleich das Gesicht. Was dort oben passiert ist – niemand erwartet von Ihnen, dass Sie wie ein kleiner Zinnsoldat einfach weiter durchs Leben marschieren. Nicht nach so einem Erlebnis.«
    »Mir fehlt nichts.«
    Er machte Anstalten, mehr zu sagen, schien es sich dann aber anders zu überlegen. »Ja. Na gut, dann bis morgen.«
    »Kommen Sie klar? Ich meine, ganz allein hier?«
    »Ja. Ehrlich gesagt glaube ich, ich brauche ein bisschen Zeit für mich selbst.«
    »Rufen Sie mich an, wenn Sie vor morgen das Bedürfnis zu reden haben.«
     
    Ich stieß im Warteraum wieder zu den anderen. »Tut mir Leid. Ich hatte vergessen, ihm die Prüfungshefte zu geben – obwohl ich vermute, dass Dr. Robinson sagen würde, es gibt keine Zufälle.«
    »Nein, und ich bin auch noch nie in Wien gewesen«, sagte sie leichthin. »Tut mir Leid, dass wir keine Gelegenheit zu einem Gespräch haben, aber ich bin heute Abend verabredet. Ihr Mann und Mr. Fremont können Sie darüber informieren, was ich über Ben gesagt habe.« Sie reichte mir eine Visitenkarte. »Rufen Sie mich an, wenn Sie irgendwelche Fragen haben.«
    Ich dankte ihr, steckte die Karte ein, ohne sie anzusehen, und wandte mich an Frank. »Meinst du, wir können ein paar Sachen aus Davids Haus holen, ohne Probleme zu bekommen?«
    Doch obwohl ich es nicht zugeben wollte, hatte ich bereits Probleme. Jede Menge Probleme.
     

33
     
    SAMSTAG ABEND, 20. MAI
    Las Piernas
     
    Das erste Mal, dass ich Nicholas Parrish in Las Piernas sah, war am frühen Abend desselben Tages.
    Jack, Frank und ich verließen das Krankenhaus und trafen uns im Supermarkt bei uns in der Nähe, um die Zutaten fürs Abendessen zu kaufen. Ich war keine große Hilfe, da ich viel zu sehr in Gedanken war. Irgendwann begriff ich, dass ich Frank nicht aus den Augen ließ – ich verschanzte mich geradezu hinter ihm. Da mir das zuwider war, zwang ich mich, auf Distanz zu ihm zu gehen. »Ich hole mal ein paar Flaschen Wasser aus dem anderen Gang«, sagte ich, und als Frank Anstalten machte, mich zu begleiten, fügte ich hinzu: »Bin gleich wieder da« und ignorierte den Blick, den Frank und Jack wechselten.
    Ich hatte mich gerade gebückt, um einen Sechserpack Mineralwasser herauszunehmen, als ich aus dem Augenwinkel Parrish sah, wie er am anderen Ende des Regals entlangging. Er

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