Grabesstille
was ich bereits befürchtet hatte. Die anderen waren tot. Von denen, die sich über das Grab gebeugt hatten, war nicht mehr viel übrig. Bingle winselte jetzt und trottete beklommen von einem Fragment zum nächsten. Vielleicht würde später ein forensischer Anthropologe an den Schauplatz kommen, die Fragmente untersuchen und in der Lage sein festzustellen, wer einmal wer gewesen war. Ich war mir nur bei einem sicher, einem Stiefel mit den Überresten eines Fußes darin, weil Bingle noch lauter zu winseln begann, als er ihn fand, und sich dann mit dem Kopf auf den Pfoten daneben legte und nicht mehr von ihm wich.
Ich schimpfte nicht mit ihm; ich wusste nicht, wie lange ich es noch ertragen könnte, hier zu stehen. Ein Teil meines Verstandes hatte sich abgeschottet – ich wusste, was ich sah, doch zugleich weigerte ich mich, es wahrzunehmen. Ich ließ Bingles Leine fallen und ging weiter, wobei ich zwar aufpasste, wohin ich trat, aber trotzdem merkte, wie die Sohlen meiner Stiefel langsam glitschig wurden. Mechanisch bewegte ich mich vorwärts und wartete darauf, etwas zu sehen, das nachvollziehbar war.
Ein kleines Stück weiter fand ich es beinahe. Ich stieß auf die Leichen von Manton und Merrick, die nicht durch die Explosion umgekommen waren. Parrish hatte jedem von ihnen mehrere Kugeln ins Gesicht geschossen.
Ich musste bei ihrem Anblick einen Laut ausgestoßen haben, da Bingle angelaufen kam. Entsetzt erkannte ich, dass er Davids Stiefel im Maul trug.
»¡Déjala!«, befahl ich scharf. »Lass ihn fallen!«
Er sah mich aufsässig an und hielt ihn fest.
»¡Déjala!«, wiederholte ich.
Sachte setzte er den Stiefel ab, wich aber nicht von ihm.
»Bien, muy bien.«
Argwöhnisch musterte er mich, als könnte ich ihm den Stiefel womöglich wegnehmen. Als er kurz davor zu sein schien, ihn sich wieder zu schnappen, sagte ich: »¿Dónde está Ben, Bingle?«
Er sah zu mir auf und neigte den Kopf zur Seite.
»Wo ist Ben? Na los, zeig’s mir. ¿Dónde está Ben, Bingle? «
Die Frage war nicht so leicht zu beantworten, wie es scheinen mochte. Ich wusste nicht genau, wo Ben zu Boden gefallen war. Die Gräser und Blumen auf der Wiese waren hoch genug, um seinen Körper zu verbergen.
Der Regen hatte sich nun zu einem Nieseln abgeschwächt, doch das machte es Bingle immer noch schwer, einen Geruch in der Luft zu wittern. Ich hielt ihn nicht zurück. Er folgte mir, als ich begann, mir zwischen der Stelle, wo Merrick und Manton lagen, und der Stelle, wo Ben aus dem Wald gelaufen war, einen Weg zu bahnen.
Wir waren erst wenige Meter gegangen, als Bingle losrannte, dann zu mir zurücklief und bellte.
»Bien, bien – cállate, Bingle«, sagte ich, da ich fürchtete, dass Parrish ihn hören könnte. »¿Dónde está Ben?«, fragte ich erneut, und wieder rannte er los, doch diesmal blieb er alle paar Schritte stehen, um zu mir nach hinten zu sehen.
Ich begriff, dass er mich auffordern wollte, mich zu beeilen.
Ich lobte ihn, obwohl mir davor graute, mir noch einen Toten näher anzusehen.
Ben Sheridans regloser Leib lag mit dem Gesicht nach oben neben einem großen Felsen. Sein Gesicht war blutüberströmt. Auch sein linkes Hosenbein war von Blut getränkt.
Bingle begann ihn zu lecken. Er reagierte nicht.
Auf einmal kam mir etwas in den Sinn, was David über Bingle gesagt hatte. Bingle leckt keine Leichen.
Ich kniete mich neben Ben, legte ihm die Finger auf den Hals und tastete nach seinem Puls.
»Bingle«, sagte ich, während ich mit den Tränen rang. »¡Qué inteligente eres!«
Ben Sheridan war am Leben.
Und ich war fest entschlossen, dass er das bleiben würde, komme, was da wolle.
Es kam noch schlimmer.
18
DONNERSTAG NACHMITTAG, 18. MAI
Bergland der südlichen Sierra Nevada
Das Dringendste zuerst. Es ist zum Kotzen, wenn man nicht einfach den Notarzt rufen kann. Wenn man nur aufgrund der Tatsache, dass man bei Bewusstsein ist, zwangsläufig zum Arzt erhoben wird, ist Regel Nummer eins die schwerste von allen: Keine Panik.
Zwei Probleme machten es mir schwer, nicht in Panik zu verfallen: Das erste war, dass es den Anschein hatte, als ob das Einzige, was zwischen »Ben Sheridan« und »tot« stand, die Worte »noch nicht« wären. Das zweite war, dass Parrish jeden Moment über die Hügelkette zurückkommen konnte, und wenn ich es bis dahin nicht geschafft hatte, Ben Sheridan aus der Wiese zu schaffen, dann würden wir mit Sicherheit als Zielscheiben in seiner Schießbude enden.
Also
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