Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
Vom Netzwerk:
und von seiner Achselhöhle zu seiner Fußsohle. Dann ging ich wieder hinaus und verglich die Gesamtlänge mit dem Ast. Ein bisschen kurz vielleicht, aber ich glaubte, es würde gehen. Mit einem Stück Schnur befestigte ich einen kurzen, dicken Stock an der Stelle, an der meinen Berechnungen nach seine Hand aufliegen musste. Ich klebte gerade ein Stoffpolster dorthin und in die Gabelung, als ich Ben meinen Namen rufen hörte.
    Ich trat ins Zelt. »Ben? Wie fühlen Sie sich?«
    »Besser.«
    »Gut. Ich gebe Ihnen noch ein paar Keflex.«
    »Ich nehme später welche. Ich – ich muss mich erleichtern. Würden Sie mir bitte beim Anziehen helfen?«, fragte er.
    »Oh. Wenn es dringend ist –«
    »So dringend nun auch wieder nicht.«
    Die Erniedrigung hätte ihn offenbar fast völlig demoralisiert, aber wir schafften es, unter den Sachen, die ich im Lager aufgesammelt hatte, ein Hemd und eine kurze Hose zu finden, die ihm passten.
    »Hat David Bingle beigebracht, Eier aus Vogelnestern zu stehlen?«, fragte ich ihn, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.
    »Was!?«
    »Äh – das war ein Themawechsel. Heute Morgen hat mir Bingle diese Wachteleier gebracht, die auf meinem Schlafsack liegen.«
    Er sah zu den Eiern hinüber. »Nein, eigentlich ist er darauf trainiert, die Natur nicht zu stören. Sehr seltsam. Aber er mag Eier.« Er schmunzelte ein wenig und fügte dann hinzu: »Vielleicht umwirbt er Sie.«
    »Ich glaube nicht, dass Hunde das tun, was die meisten Frauen für Umwerben halten würden«, sagte ich. »Auch wenn der Durchschnittsmann wahrscheinlich ihr direktes Vorgehen bewundert.«
    Ich half ihm, sich aufzusetzen.
    Seine Haut war ein bisschen zu warm, und die Rötung auf seinem Gesicht rührte offenbar nicht nur von seiner Verlegenheit her.
    »Sie kommen mir ein bisschen fiebrig vor.«
    »Helfen Sie mir bitte mit dem Hemd«, sagte er und überging meine Bemerkung.
    Ich half ihm hineinzuschlüpfen, doch er schlug meine Hände weg, als ich Anstalten machte, die Knöpfe zu schließen.
    »Verdammt noch mal«, sagte er und legte sich wieder hin, da seine Hände nach dem dritten Knopf zu zittern begonnen hatten.
    »So schlecht halten Sie sich gar nicht, alles in allem betrachtet«, sagte ich und schloss die Knöpfe ohne weitere Einwände von ihm. »Müssen Sie sich ausruhen, oder wollen Sie einen Abstecher nach draußen wagen?«
    »Ausruhen – nur ein paar Minuten«, sagte er und atmete schwer, als wäre er gerannt.
    »Wollen Sie ein Ei zum Frühstück? Sie sind klein, aber –«
    »Sie sollten sie essen. Oder geben Sie sie Bingle.«
    »Ich glaube, er hat bereits gegessen.«
    »Sie haben mir gestern Abend die Suppe gegeben. Sie hatten nichts zu essen, oder?«
    »Doch, ich habe ein wenig Suppe gegessen. Aber von uns beiden –«
    »Sie machen die ganze körperliche Arbeit. Sie brauchen Kraft. Essen Sie die Eier. Und essen Sie auch ein bisschen Suppe. Das ist alles, was er uns gelassen hat, stimmt’s?«
    »Wir sind in der Nähe einer Wiese. Dort gibt’s Löwenzahn und andere Pflanzen, die man essen kann. Außerdem lässt uns J. C. nicht im Stich. Sobald es aufklart, kommt der Hubschrauber.«
    »Essen Sie die Eier, bevor J. C. kommt.«
    »Aber –«
    »Solange ich mich ausruhe. Bitte.«
    Und so machte ich mir unter Bingles Augen Rührei. Die drei Wachteleier ergaben etwas weniger als ein Hühnerei. Ich legte eine kleine Gabel von diesem Frühstück in die Hundefutter-Schüssel des bepelzten Diebs und aß den Rest selbst.
    Ich half Ben aus dem Zelt, was keine leichte Aufgabe war, und zeigte ihm die Krücke. Er schob sie sich unter den Arm und stützte sich darauf. Sie passte besser, als ich gedacht hatte.
    »Ich brauche zwei«, sagte er.
    Ich lachte.
    »Ich meine, danke, ich wollte nicht –«
    »Schon gut. Sie brauchen ja zwei. Ich werde versuchen, noch einen Ast zu finden. Bis dahin stützen Sie sich auf mich.«
    Langsam humpelten wir vom Zelt zu einem Baum. »Schaffen Sie es von hier aus?«, fragte ich. »Rufen Sie mich, wenn Sie fertig sind – ich sehe nicht hin.«
    »Ich – nicht so dicht am Lagerplatz«, sagte er.
    »Ben, unter allen anderen Umständen würde ich Ihr Feingefühl begrüßen. Aber Sie haben Fieber und sehen aus, als würden Sie gleich in Ohnmacht fallen. Bingle hat all diese Bäume ohnehin schon markiert, also zeigen Sie ihm, wer das Alpha-Tier ist. Ich wette, Sie treffen sogar in verletztem Zustand höher.«
    »Nein«, widersprach er. »Nicht hier.«
    »Herrgott. Sie können sich eigentlich keine

Weitere Kostenlose Bücher