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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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sich Ben Sheridan mir anvertrauen würde – wenn er es überhaupt je tat.
     
    Als ich aufwachte, war Bingle verschwunden. Beunruhigt schlüpfte ich in Stiefel und Jacke. Gerade war ich in einen diesigen Morgen hinausgetreten, als er wiederkam, das Fell feucht und schmutzig und das Maul scheinbar geschwollen.
    Oje, dachte ich, er ist an ein Stachelschwein geraten. Doch als er näher kam, erkannte ich, dass er vorsichtig etwas im Mund trug.
    Bitte lass es nichts von der Wiese sein, flehte ich. Er sah mich unsicher an, als erwarte er irgendeine Handlung von mir. Da ich nicht wusste, welche Rolle ich in diesem Drehbuch spielte, rührte ich mich nicht. Er verlagerte sein Gewicht, sah beflissen drein und legte sich dann vor meine Füße. Ganz langsam und vorsichtig öffnete er den Mund und legte mir das, was er befördert hatte, zwischen die Beine.
    Eier.
    Drei kleine Eier.
    Wachteleier. Ich hoffte, dass er nicht sämtliche Eier aus dem Nest genommen hatte. Vielleicht hätte ich ihn schelten sollen, aber angesichts meiner Erleichterung darüber, dass er mir nicht die Leichenteile von irgendjemandem über die Stiefel gespien hatte, und meiner Unfähigkeit zu erraten, ob das etwas war, wofür er in der Vergangenheit gelobt worden war, brachte ich nur ein mattes »Gracias, Bingle« heraus.
    Er wedelte mit dem Schwanz.
    »Bestimmt möchtest du eines davon auf dein Hundefutter.«
    Er wedelte weiter mit dem Schwanz. Am Fell unter seinem Kinn bemerkte ich etwas, das verdächtig nach Eigelb aussah.
    »Andererseits habe ich aber das Gefühl, dass du schon gefrühstückt hast.«
    Es war unmöglich, die Eier jetzt wieder zurückzubringen, und da mir der Magen knurrte, beschloss ich, die Nahrung nicht zu verschmähen. Ich legte sie vorsichtig ins Zelt. Vor meinem geistigen Auge erschien die verrückte Vision, dass J. C. sie dort finden und mir als Strafe für diesen Eingriff in die regionale Fauna verbieten würde, mit dem Hubschrauber auszufliegen. Ihm zu erklären, dass mir der Hund die Eier gebracht hatte, würde mich wahrscheinlich nicht von meiner Schuld befreien.
    Obwohl der Regen nachgelassen hatte, schien nun wallender Nebel aufzuziehen. Rund ums Zelt war er nicht besonders dicht, doch ich bezweifelte, dass die Sicht an der tief gelegenen, flachen Wiese gut genug wäre, um mit einem Hubschrauber zu landen. Ich versuchte, mir deswegen keine allzu großen Sorgen zu machen, doch der Gedanke, den Hubschauber heute Morgen nicht landen zu sehen, war beklemmend. Falls Parrish mich nicht fand, käme ich zurecht, aber was sollte aus Ben werden? Das Fieber, der Blutverlust, die Möglichkeit einer Infektion – selbst wenn Parrish überhaupt nicht in Erscheinung trat, war Bens Leben in Gefahr.
    Der Eimer mit dem Regenwasser hatte sich erneut gefüllt. Es war ein gutes Gefühl, dass wenigstens etwas klappte. Doch diese Zuversicht sollte nicht lange anhalten.
    Bingle begleitete mich auf einen Gang zum Fluss. Das Regenwasser im Eimer war nützlich, aber es würde nicht reichen. Ich beschloss, unsere Wasserflaschen zu füllen, was nicht lange dauern sollte. Mein Trinkwasserbereiter konnte in einer guten Minute etwa einen Liter Wasser filtern.
    Ich ging schnell, da ich Ben nicht lange allein lassen wollte. Der Erdboden war weich und schlammig, aber man konnte darauf gehen. Auf dem Weg fand ich einen langen, abgebrochenen Ast, der in einer gebogenen Gabel endete. Ich nahm ihn und versuchte mich auf ihn zu stützen, indem ich mir das gegabelte Ende unter den Arm schob. Der Ast trug mein Gewicht ohne weiteres, war aber ein bisschen zu hoch für mich – womit er für Ben in etwa die richtige Höhe besaß. Ich nahm ihn mit, da ich glaubte, ihn zu einer Krücke umfunktionieren zu können. Falls wir uns wieder in Bewegung setzen mussten, wäre eine Krücke hilfreich.
    Ich trat durch die Bäume auf ein Geräusch zu, das immer lauter wurde. Zu meinem Entsetzen war der Bach nun ein wesentlich tieferer, mit Geröll angefüllter, reißender Sturzbach, der wild durch den Wald toste und viel zu schnell floss, als dass man ihn an dieser Stelle hätte überqueren können. Er schnitt uns komplett von der Wiese ab.
    Der Wiese, wo der Hubschrauber landen würde – falls er kam.
     

23
     
    FREITAG MORGEN, 19. MAI
    Bergland der südlichen Sierra Nevada
     
    Als ich zum Zelt zurückkam, schlief Ben immer noch. Ich nahm ein Stück Schnur, um drei Messungen vorzunehmen – von seiner Achselhöhle zu seinem Ellbogen, von seinem Ellbogen zu seiner Handfläche

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