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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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nicht mehr«, sagte er.
    Ich zählte die Keflex-Tabletten. Es waren noch zehn übrig. Ich fragte mich, ob ich ihm zu viele gegeben hatte oder nicht genug. Und ob sie überhaupt etwas nützten. Womöglich versuchte ich einen Großbrand mit einer Spritzpistole zu löschen.
    Ich rief Bingle zu mir her. Er kam, brachte aber Davids Pullover mit. Ich machte die Taschenlampe aus und legte mich wieder in meinen Schlafsack. Ich spürte, wie die Emotionen in mir aufwallten, ein Gefühl von Erleichterung, das mich zu Tränen rührte. Ich streichelte das Fell des Hundes und versuchte mich so weit zu beruhigen, dass ich schlafen konnte.
    Draußen war der Bach angeschwollen, und sein Rauschen übertönte die Geräusche, auf die ich früher in der Nacht gelauscht hatte. Ich versuchte auf Bens Atem zu horchen oder auf Bingles Schnarchen, doch Bach und Regen waren zu laut. Allerdings hörte ich Ben nicht im Fieberwahn aufschreien oder sich unruhig wälzen, und so nahm ich an, dass er eingeschlafen war. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, als ich ihn sagen hörte: »Was war das für eine Geschichte, die Sie mir da erzählt haben?«
    »Wann?«
    »Heute Nacht.«
    Ich merkte, wie mein Gesicht heiß wurde. »Sie wissen, was sich abgespielt hat? Sie konnten mich verstehen?«
    »Nicht immer. Es ist ein bisschen durcheinander.«
    »Parzival«, sagte ich.
    »Was?«
    »Die Geschichte war Parzival, der Gralsritter. Das ist dieser gutherzige junge Ritter, der oft unwissentlich Böses verursacht, wo er eigentlich Gutes tun wollte. Es gibt mehrere Versionen der Geschichte, aber ich habe Ihnen Auszüge aus dem deutschen Versepos erzählt, von Wolfram von Eschenbach.«
    »Sie haben mir eine Geschichte auf Englisch erzählt«, wandte er gereizt ein.
    »Ja, natürlich – nach einer Übersetzung –«
    »Guter Gott. Wollen Sie mir weismachen, die rasende Reporterin sei Expertin für mittelalterliche Dichtung?«
    Ich gab ihm keine Antwort.
    »Tut mir Leid«, sagte er.
    Nach langem Schweigen sagte er: »Warum ist Ihnen die deutsche Version lieber?«
    »Es ist die Einzige, die ich kenne. Es ist die, die mir Jack gegeben hat, die, die ich gelesen habe. Tolle Expertin, was?«
    »Hören Sie, ich habe gesagt, dass es mir Leid tut.«
    »Das haben Sie.«
    Nach weiterem Schweigen versuchte er es noch einmal. »Wer ist Jack?«
    »Unser Nachbar. Er ist – na ja, Jack ist nicht leicht zu beschreiben. Aber er kennt sich mit Mythologie und Folklore aus.«
    »Erzählen Sie mir die Geschichte noch einmal«, bat er. »Diesmal höre ich besser zu.«
    »Ich werde ihr kaum gerecht werden können. Es kommen jede Menge komplizierte Beziehungen, Schlachten und Figuren vor, an deren Namen ich mich nicht erinnern kann. Heute Nacht habe ich mich irgendwie durchgemogelt. Sie sollten die Geschichte lieber lesen, wenn Sie wieder zu Hause sind.«
    »Dann lasse ich Sie jetzt schlafen«, sagte er. Erst in diesem Moment nahm ich wahr, was vermutlich schon die ganze Zeit in seiner Stimme mitgeklungen hatte.
    »Tia, wenn Ihnen eine zweitklassige Version davon nichts ausmacht …«
    »Das stört mich nicht.«
    Und so versuchte ich ihn von seinen Schmerzen abzulenken, indem ich ihm vom jungen Parzival erzählte, der von einer übertrieben fürsorglichen Mutter in Unkenntnis des Rittertums erzogen wurde. Natürlich wollte Parzival, nachdem ihm zum ersten Mal Ritter begegnet waren, nichts lieber, als selbst auch einer zu werden, und so machte er sich auf, König Artus seine Dienste anzubieten. Obwohl er peinlich naiv und unwissend war, hatte er eine natürliche Begabung für diesen Beruf.
    Ben schlief ein, als Parzival gerade auf dem Weg zur Gralsburg war und den Fischerkönig treffen sollte.
    Mittlerweile war es kurz nach Sonnenaufgang, und obwohl es im Zelt noch ziemlich dunkel war, reichte das Licht aus, um Ben Sheridans bleiche, abgezehrte Gesichtszüge zu erkennen.
    »Was haben Sie, Ben?«, flüsterte ich, in Gedanken noch halb bei der Geschichte von Parzival.
    Unter den gegebenen Umständen schien es eine dumme Frage zu sein. Schmerzen, Schwäche, schwere Verletzungen. Schlechtes Wetter, Hunger und ein Mörder, der in der Nähe frei herumlief. Leicht zu sagen, was er hatte.
    Oder? Ich dachte an meine letzte Unterhaltung mit David zurück, als ich zu meinem Spaziergang mit Bingle aufbrach. David hatte angedeutet, dass Ben schon vor unserem Aufbruch zu diesen Wiesen Probleme gehabt hatte. Worin auch immer diese Probleme bestanden, ich nahm an, dass es lange dauern würde, bis

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