Grabkammer
dachte ich, es handele sich sicher um einen alten Mordfall. Einen Fall, der zu den Akten gelegt wurde, mit einem Täter, der selbst schon längst tot ist. Aber wenn er es ist, der diese Leiche in Dr. Pulcillos Wagen gelegt hat …«
»Dann ist er noch am Leben, Jane. Und er ist hier in Boston.«
In diesem Moment wurde die Tür des Vorraums aufgestoßen.
Ein älterer Herr mit silbergrauem Haar trat ein und band sich im Gehen eine OP-Schürze um.
»Dr. Vandenbrink?«, sagte Maura. »Ich bin Dr. Isles. Schön, dass Sie es noch rechtzeitig geschafft haben.«
»Ich hoffe, Sie haben noch nicht angefangen.«
»Wir haben auf Sie gewartet.«
Der Mann kam auf sie zu und gab ihr die Hand. Er war in den Sechzigern und dürr wie ein Zaunpfahl, doch sein tief gebräuntes Gesicht und sein energischer Gang verrieten, dass diese drahtige Figur eher Ausdruck einer gesunden Konstitution als irgendeiner Krankheit war. Während Maura die Vorstellung übernahm, würdigte der Mann Jane und Frost kaum eines Blickes; stattdessen nahm der Leichnam auf dem Tisch seine ganz Aufmerksamkeit in Anspruch, auch wenn er gnädigerweise noch mit einem Laken abgedeckt war. Offensichtlich waren es die Toten und nicht die Lebenden, denen sein größtes Interesse galt.
»Dr. Vandenbrink arbeitet am Drents Museum in Assen«, erklärte Maura. »Er ist gestern Abend eigens für diese Obduktion aus den Niederlanden eingeflogen.«
»Und das ist sie also?«, sagte er, ohne den Blick von dem verhüllten Körper zu wenden. »Dann wollen wir sie uns doch einmal anschauen.«
Maura reichte ihm Latexhandschuhe und streifte sich selbst ebenfalls ein Paar über. Sie griff nach dem Laken, um die Leiche freizulegen, und Jane wappnete sich für den Anblick.
Nackt auf dem blanken Edelstahltisch, angestrahlt von hellen Leuchten, wirkte der Körper mit den verdrehten Gliedmaßen wie ein knorriger, verkohlter Ast. Aber es war das Gesicht, das Jane nicht mehr vergessen würde, schwarz glänzend wie Kohle, die Züge im Todesschrei erstarrt.
Dr. Vandenbrink jedoch schien ganz und gar nicht entsetzt – im Gegenteil, er ging noch näher heran und betrachtete die Leiche fasziniert. »Sie ist wunderschön«, murmelte er. »O ja, ich bin froh, dass Sie mich angerufen haben. Die Reise hat sich auf jeden Fall gelohnt.«
»Das nennen Sie schön?«, meinte Jane.
»Ich meinte ihren Erhaltungszustand«, erwiderte er. »Im Augenblick ist er nahezu vollkommen. Aber ich fürchte, jetzt, da das Gewebe der Luft ausgesetzt ist, könnte es zu verwesen beginnen. Das ist das eindrucksvollste moderne Beispiel, das ich je zu Gesicht bekommen habe. Es kommt sehr selten vor, dass man eine menschliche Leiche aus neuerer Zeit findet, die diesem Prozess unterzogen wurde.«
»Dann wissen Sie also, wie sie so geworden ist?«
»O ja. Sie hat große Ähnlichkeit mit den anderen.«
»Den anderen?«
Er sah Jane an. So tief lagen seine Augen in den Höhlen, dass sie das verstörende Gefühl hatte, von einem Totenschädel angestarrt zu werden. »Haben Sie schon einmal von dem Mädchen von Yde gehört?«
»Nein. Wer ist das?«
»Yde ist ein Dorf im Norden der Niederlande. Im Jahr 1897 machten zwei Männer aus Yde beim Torfstechen eine grausige Entdeckung. Sie fanden eine Frau mit langen blonden Haaren, die offensichtlich erdrosselt worden war. Ein langer Gürtel war dreimal um ihren Hals geschlungen. Zuerst begriffen die Menschen von Yde nicht, womit sie es zu tun hatten. Sie war so klein und verhutzelt, dass sie sie für eine alte Frau hielten.
Oder vielleicht eine Hexe. Aber als sich später die Wissenschaftler mit ihr beschäftigten, stellten sie fest, dass sie zum Zeitpunkt ihres Todes keine alte Frau gewesen war, sondern ein Mädchen von etwa sechzehn Jahren. Ein Mädchen, das unter einer verkrümmten Wirbelsäule gelitten hatte. Ein Mädchen, das ermordet wurde. Man hatte ihr unterhalb des Schlüsselbeins eine Stichwunde zugefügt. Dann legte man ihr einen Gürtel um den Hals und zog zu, bis sie erstickte. Anschließend wurde sie mit dem Gesicht nach unten ins Moor geworfen, wo sie Tausende von Jahren ruhte. So lange, bis die beiden Torfstecher sie fanden und sie den Blicken der Welt aussetzten.«
»Tausende von Jahren?«
Vandenbrink nickte. »Die Radiokarbondatierung verrät uns, dass sie vor zweitausend Jahren gelebt hat. Als Jesus auf Erden wandelte, lag dieses arme Mädchen vielleicht schon in seinem Grab.«
»Nach zwei Jahrtausenden konnte man noch feststellen, wie sie gestorben
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