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Grabkammer

Grabkammer

Titel: Grabkammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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der auf parodontale Erkrankungen hinweisen würde. Und dann wäre da noch dieses Detail.« Maura tippte mit dem Finger auf das Röntgenbild. »Beide vorderen Backenzähne fehlen.«
    »Du glaubst, dass sie gezogen wurden?«
    »Aber es sind keine Lücken zwischen den Zähnen. Und die Wurzeln dieser Schneidezähne wurden verkürzt und stumpfer gemacht.«
    »Und das bedeutet?«
    »Sie wurde kieferorthopädisch behandelt. Sie hat eine Zahnspange getragen.«
    »Wir sprechen also von einem wohlhabenden Opfer.«
    »Auf jeden Fall Mittelschicht aufwärts.«
    »Moment mal, ich hab nie eine Spange gekriegt.« Jane bleckte die Zähne und ließ die unregelmäßige untere Reihe sehen. »Das hier sind Mittelschicht-Zähne, Doc.« Sie deutete auf die Röntgenaufnahme. »Mein Dad konnte es sich nicht leisten, mir so was zu bezahlen.«
    »Madam X hatte auch gute Zähne«, bemerkte Frost. Maura nickte. »Beide Frauen hatten eine privilegierte Kindheit, vermute ich. So privilegiert, dass sie sich gute Zahnpflege und kieferorthopädische Behandlungen leisten konnten.« Sie nahm die Kieferaufnahmen ab und griff nach einem neuen Satz. Die Filme machten ein schwirrendes Geräusch, als sie sie unter die Clips schob. Jetzt schimmerten die Knochen der beiden Unterschenkel am Leuchtkasten.
    »Und hier ist noch etwas, was die beiden Opfer gemeinsam hatten.«
    Jane und Frost hielten beide erschrocken die Luft an. Sie brauchten keinen Radiologen, um die Verletzungen zu interpretieren, die sie auf den Röntgenaufnahmen sahen.
    »Ihre beiden Schienbeine wurden auf diese Weise malträtiert«, sagte Maura. »Mit einem stumpfen Werkzeug – vielleicht ein Hammer oder ein Wagenheber. Und wir sprechen hier nicht von Schlägen, die die Schienbeine nur leicht streiften. Das war eine brutale, gezielte Attacke, mit der vollen Absicht, den Knochen zu zertrümmern. Beide Schienbeine weisen quer verlaufende Frakturen des Knochenschafts auf, und verstreute Splitter sind in das weiche Gewebe eingebettet. Die Schmerzen müssen unerträglich gewesen sein. Sie konnte mit Sicherheit nicht mehr gehen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie in den folgenden Tagen gelitten haben muss. Es kam wahrscheinlich zu einer Infektion, die sich von den offenen Wunden in die Weichteile ausbreitete. Die Bakterien sind in den Knochen eingedrungen und schließlich auch ins Blut.«
    Jane sah sie an. »Sagtest du gerade Tage?«
    »Diese Frakturen waren sicher nicht tödlich. Jedenfalls nicht sofort.«
    »Vielleicht wurde sie zuerst getötet. Das könnten postmortale Verletzungen sein.« Bitte lass es so sein – und nicht so, wie ich befürchte.
    »Es tut mir leid, das sagen zu müssen – aber sie hat noch gelebt«, erwiderte Maura. »Mindestens noch einige Wochen.« Sie deutete auf eine unregelmäßig geformte Kontur, die wie eine weiße Rauchwolke um den gebrochenen Knochen herum zu sehen war. »Das da ist eine Kallusbildung. Das ist ein Selbstheilungsprozess des Knochens, und so etwas passiert nicht über Nacht, auch nicht in ein paar Tagen. Es dauert Wochen.«
    Wochen, in denen diese Frau gelitten hatte. Wochen, in denen sie den Tod herbeigesehnt haben musste. Jane dachte an einen anderen Satz von Röntgenaufnahmen, die sie an diesem Leuchtkasten hatte hängen sehen. Das zerschmetterte Bein einer anderen Frau, die Bruchstelle umwölkt vom Gewebe des heilenden Knochens.
    »Genau wie bei Madam X«, sagte sie.
    Maura nickte. »Keines der Opfer wurde auf der Stelle getötet.
    Beiden wurden Beinverletzungen zugefügt, die sie zum Krüppel machten. Beide lebten danach noch eine Weile. Was bedeutet, dass irgendjemand ihnen Essen und Wasser gebracht haben muss. Irgendjemand hielt sie am Leben, so lange, dass wir in diesen Aufnahmen schon die ersten Zeichen des Heilungsprozesses erkennen können.«
    »Es ist der gleiche Täter.«
    »Die Muster ähneln sich allzu sehr. Das ist ein Teil seiner Handschrift. Zuerst verstümmelt er sie, vielleicht um sicherzustellen, dass sie nicht fliehen können. Und dann, über Tage und Wochen hinweg, versorgt er sie mit Nahrung und hält sie so am Leben.«
    »Was zum Teufel macht er während dieser ganzen Zeit? Genießt er einfach nur ihre Gesellschaft?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Jane starrte den zerschmetterten Knochen an und verspürte ein Ziehen in ihren eigenen Beinen – nur eine leise Ahnung von dem, was diese Frau erduldet haben musste.
    »Weißt du«, sagte sie leise, als du mich an diesem Abend das erste Mal wegen Madam X angerufen hast, da

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