Grabkammer
zu machen.
Draußen wurde es allmählich hell. Busse rumpelten vorüber, die ersten Jogger trabten um den Block, und die Menschen gingen zur Arbeit. Sie sah zu, wie der Morgen verstrich, wie der Spielplatz sich mit Kindern füllte und der Nachmittagsverkehr die Straßen verstopfte.
Dann wurde es Abend, und sie hielt es nicht länger aus.
Alle anderen leben ihr Leben, dachte sie. Alle außer mir.
Sie griff zum Telefon und rief Nick Robinson an. »Ich will wieder arbeiten«, sagte sie.
Jane blickte in das Gesicht des allerersten Opfers – der Frau, die noch einmal davongekommen war.
Das Foto von Medea Sommer stammte aus dem Jahrbuch der Stanford University, deren Studentin Medea vor siebenundzwanzig Jahren gewesen war. Sie war eine dunkelhaarige, dunkeläugige Schönheit gewesen, mit fein geschwungenen Wangenknochen und einer geradezu unheimlichen Ähnlichkeit mit ihrer Tochter Josephine. Du warst diejenige, die Bradley Rose wollte, dachte Jane. Die Frau, die er und sein Partner Jimmy Otto nie zu fassen bekamen. Und so sammelten sie stattdessen Stellvertreterinnen – Frauen, die so aussahen wie Medea. Doch keines ihrer Opfer war Medea. Sie jagten weiter, suchten unermüdlich, aber Medea und ihre Tochter waren ihnen immer einen Schritt voraus.
Bis San Diego.
Eine warme Hand legte sich auf ihre Schulter, und sie schnellte auf ihrem Stuhl in die Höhe.
»Wow.« Gabriel, ihr Mann, lachte. »Gut, dass du keine Waffe trägst, sonst hättest du mich wahrscheinlich glatt über den Haufen geschossen.« Er setzte Regina auf dem Küchenboden ab, und sie wackelte davon, um mit ihren geliebten Topfdeckeln zu spielen.
»Ich hab dich nicht reinkommen hören«, meinte Jane.
»Ihr wart aber nicht lange auf dem Spielplatz.«
»Das Wetter sieht nicht so toll aus. Es wird jeden Moment anfangen zu regnen.« Er beugte sich über ihre Schulter und sah das Foto von Medea. »Ist sie das? Die Mutter?«
»Ich sag’s dir, diese Frau ist wirklich eine Madam X. Bis auf ihre College-Unterlagen habe ich kaum etwas über sie finden können.«
Gabriel setzte sich zu ihr und überflog die wenigen Dokumente, die das Boston PD bislang über Medea zusammengetragen hatte. Sie lieferten nur ein schemenhaftes Bild einer jungen Frau, deren wahrer Charakter im Dunkeln blieb. Gabriel setzte seine Brille auf und lehnte sich zurück, um die Akten der Stanford University über Medea zu studieren. Das neue Horngestell verlieh ihm eher das Aussehen eines Bankangestellten als das eines FBI-Agenten, der etwas von Schusswaffen verstand.
Auch nach anderthalb Jahren Ehe war Jane es noch nicht müde, ihn anzusehen – und ihn zu bewundern, wie sie es jetzt tat. Obwohl draußen der Donner grollte und Regina in der Küche mit ihren Topfdeckeln einen Höllenlärm veranstaltete, war er voll und ganz auf seine Lektüre konzentriert.
Jane ging in die Küche und hob Regina hoch, die sich sofort ungeduldig loszuwinden versuchte. Werde ich den Tag noch erleben, an dem du einfach mal ruhig und zufrieden in meinen Armen liegst?, fragte sich Jane, während sie ihre widerspenstige Tochter an sich drückte, während sie den Geruch nach Shampoo und warmer Babyhaut einsog, die lieblichsten Düfte der Welt. Jeden Tag sah Jane mehr von sich selbst in Regina, in ihren dunklen Augen, ihrem üppigen dunklen Haar – und auch in ihrem ausgeprägten Trotzkopf. Ihre Tochter war eine Kämpferin, und sie würde noch so manche Schlacht mit ihr ausfechten müssen. Doch als sie in Reginas Augen blickte, wusste Jane auch, dass nichts sie je auseinander bringen würde. Um ihre Tochter vor Schaden zu bewahren, würde Jane alles riskieren, alles ertragen.
Genau wie Josephine es für ihre Mutter getan hatte.
»Das ist eine verwirrende Lebensgeschichte«, sagte Gabriel.
Jane setzte ihre Tochter auf dem Boden ab und blickte zu ihrem Mann auf. »Du meinst die von Medea?«
»Geboren und aufgewachsen in Indio, Kalifornien.
Traumnoten an der Stanford University. Dann bricht sie ihr Studium im letzten Jahr abrupt ab, um ihr Kind zu bekommen.«
»Und kurz darauf verschwinden sie beide von der Bildfläche.«
»Und tauchen unter anderem Namen wieder auf.«
»Und das mehr als einmal«, ergänzte Jane. Sie setzte sich wieder an den Tisch. »Fünf Namensänderungen, soweit Josephine sich erinnern kann.«
Er deutete auf den Polizeibericht. »Das da ist interessant.
In Indio erstattete sie Anzeige sowohl gegen Bradley Rose als auch gegen Jimmy Otto. Schon damals stellten sie
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