Grabkammer
Schlösser zierte jetzt ihre Wohnungstür.
Josephine hängte die Kette ein, drehte den Schlüssel um und legte den Riegel vor. Dann klemmte sie zur Sicherheit noch einen Stuhl unter den Türknauf – kein unüberwindliches Hindernis, aber immerhin eine Art Frühwarnsystem.
Schwerfällig schleppte sie sich mit ihrem Gipsbein auf Krücken zum Fenster und blickte auf die Straße hinunter. Sie sah Detective Frost aus ihrem Gebäude treten und in seinen Wagen steigen. Früher hätte er vielleicht nach oben geschaut, ihr zugewinkt und freundlich gelächelt, aber diese Zeiten waren vorbei. Jetzt war sein Umgang mit ihr rein geschäftsmäßig, ebenso kühl und distanziert wie der seiner Kollegin Rizzoli. Das kommt davon, wenn man die Leute anlügt, dachte sie. Ich war nicht aufrichtig, und jetzt traut er mir nicht mehr. Und damit hat er ganz recht.
Das größte Geheimnis habe ich ihnen noch gar nicht verraten.
Frost hatte ihre Wohnung schon überprüft, als sie angekommen waren, aber jetzt verspürte sie den Drang, selbst noch einmal in ihrem Schlafzimmer, im Bad und in der Küche nach dem Rechten zu sehen. So ein bescheidenes kleines Reich – aber immerhin war es ihres. Alles war so, wie sie es vor einer Woche zurückgelassen hatte; alles war auf beruhigende Weise vertraut. Alles wieder normal.
Später am Abend jedoch, als sie am Herd stand und Zwiebeln und Tomaten in das auf kleiner Flamme köchelnde Chili con Carne rührte, musste sie plötzlich an Gemma denken, die nie wieder ein Essen genießen würde, die nie mehr Gewürze riechen, Wein kosten oder die Hitze spüren würde, die von einem Ofen aufstieg.
Als sie sich schließlich zum Essen an den Tisch setzte, brachte sie nur ein paar Löffel hinunter, ehe ihr der Appetit verging.
Sie saß da und starrte die Wand an, den einzigen Schmuck, den sie dort aufgehängt hatte – einen Kalender. Es war ein Indiz für ihre Unsicherheit: Sie hatte nie gewusst, ob sie sich in Boston wirklich zu Hause fühlen durfte. Deshalb war sie auch nie dazugekommen, ihre Wohnung komplett einzurichten. Aber das werde ich jetzt nachholen, dachte sie. Detective Rizzoli hat recht: Es ist Zeit, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, diese Stadt zu meiner Stadt zu machen. Ich werde nicht länger davonlaufen. Das bin ich Gemma schuldig, die alles für mich gegeben hat, die gestorben ist, damit ich weiterleben konnte. Und deshalb werde ich jetzt leben. Ich werde ein Zuhause haben, ich werde Freundschaften schließen, vielleicht werde ich mich sogar verlieben.
Und ich fange jetzt damit an.
Draußen ging der Nachmittag allmählich in einen milden Sommerabend über.
Mit ihrem Gipsbein konnte sie nicht ihren üblichen Abendspaziergang machen oder auch nur in der Wohnung auf und ab gehen. Stattdessen öffnete sie eine Flasche Wein und ging ins Wohnzimmer, wo sie es sich auf der Couch bequem machte und sich durch die Kanäle zappte. Sie hatte gar nicht gewusst, dass es so viele Sender gab – und sie waren alle gleich. Hübsche Gesichter. Fiese Typen mit Knarren. Noch mehr hübsche Gesichter. Typen mit Golfschlägern.
Plötzlich erschien ein neues Bild auf dem Schirm, und ihre Hand an der Fernbedienung erstarrte. Es waren die Abendnachrichten, und die Einblendung zeigte das Foto einer attraktiven jungen Frau mit dunklen Haaren.
»Die Frau, deren mumifizierte Leiche im Crispin Museum gefunden wurde, ist jetzt identifiziert. Lorraine Edgerton verschwand vor fünfundzwanzig Jahren in einem abgelegenen Parkgelände in New Mexico…«
Es war Madam X. Sie sieht aus wie meine Mutter. Sie sieht aus wie ich.
Sie schaltete den Fernseher aus. Die Wohnung kam ihr plötzlich wie ein Käfig vor, nicht wie ein Zuhause, und sie war ein Vogel, der wild mit den Flügeln gegen die Gitterstäbe schlug.
Ich will mein Leben wiederhaben.
Nach dem dritten Glas Wein schlief sie endlich ein.
Es war noch fast dunkel, als sie erwachte. Sie setzte sich ans Fenster, sah zu, wie die Sonne aufging, und fragte sich, wie viele Tage sie in diesen vier Wänden eingeschlossen sein würde. Auch das war eine Art von Tod, dieses Warten auf den nächsten Überfall, auf den nächsten Drohbrief. Sie hatte Rizzoli und Frost von den Botschaften erzählt, die an Josephine Sommer adressiert waren – Beweisstücke, die sie unglücklicherweise zerrissen und die Toilette hinuntergespült hatte. Jetzt überwachte die Polizei nicht nur ihre Wohnung, sondern überprüfte auch ihre Post.
Es war an Bradley Rose, den nächsten Schritt
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