Grablichter - Almstädt, E: Grablichter
Patronenhülsen flogen direkt an Pias Gesicht vorbei. Sie sah die Schlange zucken, Blut spritzen und lindgrüne Kacheln bersten – der zerfetzte Schlangenkörper sackte zu Boden.
Pia ließ den Schirm fallen und ging ein paar Schritte rückwärts. Gerlach senkte die Waffe und atmete aus.
»Ist sie tot?«, fragte er.
»Sieht so aus. War das nötig? Ich hatte sie doch.«
»Sie hätte dich beinahe gebissen!«, rechtfertigte sich Gerlach. »Sei bloß vorsichtig, manche haben sogar noch ihren Bissreflex, wenn sie tot sind.«
Pia nahm den Schirm wieder auf und tippte den Schlangenkörper an. Als sich nichts rührte, machte sie sich daran, die tote Schlange in die bereitstehende Milchkanne zu bugsieren. Anschließend verschloss sie das Gefäß, indem sie ein Handtuch in die Öffnung stopfte.
»Falls sie wieder aufersteht«, kommentierte Gerlach ihre Vorsichtsmaßnahme mit düsterer Stimme.
An die halsbrecherische Fahrt durch dichten Nebel zur Bernhard-Nocht-Klinik erinnerte Pia sich später nur noch bruchstückhaft.
»Du willst schon weg?«
Henriette Mühlberg fuhr erschocken zusammen. Ihre Freundin Gerda stand im Türrahmen zu ihrem Schlafzimmer und sah sie mit müden Augen an. Henriette ärgerte sich: Sie fühlte sich ertappt, so wie sie in Schal und Mantel im Flur stand, ihren Koffer in der Hand und im Begriff, ohne ein Wort des Abschieds aus dem Haus zu schleichen.
»Ich muss abreisen! Ich habe hier auf einmal keine Ruhe mehr. Es liegt ein Brief für dich auf dem Küchentisch, der alles erklärt …«
»Henri, es ist erst kurz vor halb fünf!«
»Ich wollte zu Fuß zum Bahnhof gehen. Der erste Zug geht um Viertel vor sechs.«
»Du musst es ja wirklich bemerkenswert eilig haben, meine Liebe. Und ich bezweifle, dass du es irgendwie erklären kannst.« Gerdas Gesicht sah zerknittert aus, ein geblümter Morgenmantel hing schlaff an ihrem dürren Körper herunter. Ihr weißes Haar trug sie nachts zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr fast bis auf die Hüften reichten.
»Ich muss dringend nach Hause. Die Katzen …«
»Deine kleinen Monster kommen gut ohne dich zurecht, Henriette. Aber ich habe dich schreien gehört. Hattest du einen Albtraum?« Gerda machte ein paar Schritte auf Henriette zu und streckte den Arm nach ihr aus. »Komm. Ich mache uns einen heißen Kakao. Einschlafen kann ich jetzt sowieso nicht mehr. Und du ziehst deinen Mantel wieder aus und erzählst mir alles …«
Einen Augenblick war Henriette versucht, nachzugeben. Es war verlockend, sich jemandem mitzuteilen. Doch wie sollte sie Gerda, deren Probleme sich darauf beschränkten, die passende Bluse für den Bridgeabend auszuwählen, ihre Befürchtungen begreiflich machen? Henriette hatte sich noch nie anderen Menschen anvertrauen können, und je älter sie wurde, desto mehr fürchtete sie ihr altes Schreckgespenst: Dass man ihre Exzentrik für eine Gemütskrankheit halten könnte. Sie schüttelte so nachdrücklich den Kopf, dass ihr alter Wollschal an ihrem Hals kratzte. »Ich muss los, Gerda. Vielen Dank für deine Gastfreundschaft. Aber mein Zug …«
Sie gab ihrer überraschten Freundin noch einen freundschaftlichen Knuff gegen die Schulter und eilte in die Dunkelheit hinaus. Nur weg. Zurück nach Kirchhagen. Sie glaubte weder an Geister noch an Visionen. Aber sie glaubte an ihr Unterbewusstsein, und wenn Moquimbo ihr im Traum erschien und sich vor ihren Augen in eine Anaconda verwandelte, dann war das ein Hinweis auf drohendes Unheil. Sie hatte keine Zeit zu verlieren!
»Hey, hast du unsere Begegnung mit der Giftschlange gut überstanden?« Nach einer etwas hektischen Frühbesprechung im Kommissariat waren Pia Korittki und Michael Gerlach wieder unterwegs in Richtung Kirchhagen.
»Bestens. Und du?« Er wirkte entspannter als sonst in ihrer Gegenwart. Es geht doch nichts über gemeinsam bewältigte Gefahren, wenn man eine Beziehung verbessern will, dachte Pia belustigt. Vielleicht sollte sie mit Hinnerk ein Überlebenstraining absolvieren, anstatt in den Schweizer Alpen zu kuscheln.
Während der Besprechung hatten sie erfahren, dass Jan Dettendorfs Zustand seit dem frühen Morgen stabil war. Bei dem von Gerlach erlegten Tier handelte es sich um eine in Südmexiko, Venezuela und Ecuador heimische Greifschwanzlanzenotter.Ein Biss dieser Schlangenart konnte tödlich sein. Jan Dettendorf hatte Glück gehabt, dass er über eine gute Konstitution verfügte und schnell medizinisch versorgt worden war. Des Weiteren hatte Gabler nun auch
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