Grabstein - Mùbei: Die große chinesische Hungerkatastrophe 1958-1962 (German Edition)
einer Arbeitskonferenz des Zentralkomitees vom 31. Mai 1961 sagte Liu Shaoqi: »Naturkatastrophen sind in der Mehrzahl der Gebiete nicht die eigentliche Ursache, die Mängel und Fehler in unserer Politik sind die Hauptursache für die Misere.« [773]
Auf der »Versammlung der Siebentausend« im Januar 1962 ging Liu Shaoqi noch einen Schritt weiter, indem er die Misere als zu »dreißig Prozent durch Naturkatastrophen verursacht« und zu »siebzig Prozent menschengemacht« bezeichnete. [774] Mao Zedong war über diese Formulierung ausgesprochen verärgert und kritisierte auf der zehnten Vollversammlung des Zentralkomitees im September 1962, dass man die Situation nur »schwarz in schwarz« male, und gab die Schuld an der Misere ausschließlich den Naturkatastrophen. Das Gerede von den »drei Jahren voller Naturkatastrophen« hat bis Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts nicht aufgehört. In der Formulierung der am 27. Juni 1981 verabschiedeten »Resolution des Zentralkomitees zu historischen Problemen der Partei seit Staatsgründung« heißt es: »Vor allem aufgrund der Fehler des ›Großen Sprung nach vorn‹ und des ›Kampfes gegen rechte Tendenzen‹, gepaart mit Naturkatastrophen und dem Treue- und Vertragsbruch der sowjetischen Regierung geriet unsere Volkswirtschaft zwischen 1959 und 1961 in ernste Schwierigkeiten, die zu großen Verlusten für Staat und Bevölkerung führten.« [775]
Hier fasst man also die Gründe für die Hungersnot wie folgt zusammen: Fehler in der Politik, Naturkatastrophen, Vertragsbruch der Sowjetunion. Aber an erster Stelle stehen »die Fehler des ›Großen Sprung nach vorn‹ und des ›Kampfes gegen rechte Tendenzen‹«. Das ist in der Tat eine Konkretisierung dessen, was Liu Shaoqi als zu »dreißig Prozent durch Naturkatastrophen verursacht« und zu »siebzig Prozent menschengemacht« bezeichnete, plus den Faktor des sowjetischen Vertragsbruchs. Aber wie sieht die historische Wirklichkeit aus?
War die Hungersnot etwa nicht durch Naturkatastrophen ausgelöst worden? Um diese Frage zu beantworten, habe ich Wetterexperten um Rat gefragt und in den historischen Materialien nachgeschlagen. Das Resultat meiner Bemühungen: Naturkatastrophen gibt es jedes Jahr, auch in den drei Jahren der Hungersnot hat es Naturkatastrophen gegeben, aber nicht mehr als in normalen Jahren.
Das Buch Karten von landwirtschaftlichen Klimaressourcen und wichtigen Veränderungen der landwirtschaftlichen Produktionsmengen [776] liefert eine Analyse von zwischen 1951 und 1990 an 350 Messstationen im ganzen Land gesammelten Wetterdaten. Anhand einiger Kurven in diesem Buch können wir das Ausmaß der Naturkatastrophen zwischen 1959 und 1961 ablesen. Außerdem ziehen wir hier weitere Informationen zur Interpretation dieser Kurven heran.
1.
Durchschnittliche Niederschlagsmengen
Um das Ausmaß von Naturkatastrophen einschätzen zu können, nehmen die Meteorologen oft »durchschnittliche Niederschlagsmengen« als Maßstab etwa für eine Dürre. Wenn die Niederschlagsmengen in einem Untersuchungszeitraum an den Durchschnittswert vieler Jahre herankommen, dann kann man nicht von einer Dürre sprechen.
Die durchschnittliche Niederschlagsmenge lag 1960 um etwa 30 Prozent niedriger als in normalen Jahren. Das war eine normale Trockenheit, die im Übrigen bei weitem nicht so schlimm war wie etwa in den Jahren 1953, 1963, 1966, 1971, 1978, 1986 und 1989. Die Dürre 1978 war weitaus schlimmer als die von 1960, außerdem folgte sie unmittelbar auf den »Beinahe-Kollaps der Wirtschaft« kurz nach dem Ende der Kulturrevolution, aber in dieser Zeit hat es keine Hungertoten gegeben.
1959 und 1961 lag die Niederschlagsmenge im Durchschnitt bei 80 Prozent, es waren Überschwemmungsjahre, aber die Überschwemmungen waren weitaus weniger schlimm als in Jahren wie 1954 und 1973. Meteorologen differenzieren Überschwemmungskatastrophen in Überschwemmungen und schwere Überschwemmungen: Wenn über einen Zeitraum von einem Monat die durchschnittliche Niederschlagsmenge bei über 200 Prozent liegt, über zwei Monate bei über 100 Prozent und über drei Monate bei über 50 Prozent, dann spricht man von schweren Überschwemmungen. [777] 1957 und 1959 waren demzufolge ganz normale Überschwemmungsjahre. Die Überschwemmungen 1954 waren am schwersten, Menschen kamen in den Fluten ums Leben, aber es ist nicht zu Hungertoten in größerem Umfang gekommen.
2.
Durchschnittliche Niederschlagsmengen in
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