Graciana - Das Rätsel der Perle
unbedingt nötig ist. Ihr werdet gehorchen und sie zur Gemahlin nehmen! Oder wollt Ihr es auf Euch nehmen, ihrem künftigen Gemahl das verschlungene Schicksal des armen Mädchens zu erklären? Ihm zu sagen, weshalb sie nicht wie andere Bräute in sein Bett kommt?«
Der Graf von Lunaudaie bekam eine hochrote Stirn und schlug die geballte rechte Faust in die linke offene Hand. »Ich kann es nicht tun!«
Der alte Waffenmeister sah nachdenklich in seinen dampfenden Weinbecher. Er fand es leichter, mit Kérven zu sprechen, wenn er dessen Blick ausweichen konnte. Sein Talent zum Theaterspielen war nicht so ausgeprägt wie das von Graciana.
»Das wäre Hochverrat, mein Freund. Es würde Euch Namen, Titel, Burg und Lehen kosten, ganz zu schweigen von Eurem Leben. Seine Gnaden kann es sich nicht leisten, dass Zweifel an seiner neuen Autorität laut werden! Ich bin in offizieller Mission bei Euch!«
Kérven wusste, was das bedeutete. Sein Vasalleneid zwang ihn zum Gehorsam. Aber es musste noch einen anderen Weg geben ...
24. Kapitel
Der Spiegel war ein persönliches Geschenk der Dame de Tréboule, die schweren Herzens von Graciana Abschied genommen hatte. Graciana würde einen Schreiner in Lunaudaie damit beauftragen, einen schönen hölzernen Rahmen zu schnitzen, der der Vollkommenheit des Spiegels angemessen war. Im Moment jedoch lehnte das gute Stück reichlich schmucklos auf einem Tisch an der Wand der Herrschaftskammer.
Ganz und gar nicht schmucklos war das Bild, das er zurückwarf. Arlette, welche ihr die mütterliche Dame als persönliche Zofe überlassen hatte und die ihrer jungen Herrin mehr in Freundschaft als in steifem Respekt zugetan war, klatschte zufrieden in die Hände.
»Den Mann möchte ich sehen, der ruhig Blut behält, wenn er Euch so erblickt«, meinte sie übermütig lachend.
»Meinst du wirklich?«
Noch immer war Graciana nicht ganz überzeugt von der gefährlichen Faszination, die ihre eigene Person angeblich auf den störrischen Grafen von Lunaudaie ausübte. War sie schön genug, charmant genug, verführerisch genug, um ihm ein wenig von dem Kummer heimzuzahlen, den er ihr bereitet hatte? Würde er sie wollen, um jeden Preis und gegen jedes einzelne seiner hochtrabenden Prinzipien?
»Muss es wirklich dieser Ausschnitt sein?«, erkundigte sie sich besorgt. »Ich komme mir halbnackt vor!«
»Die Damen bei Hofe tragen noch tiefere Dekolletés«, erinnerte Arlette. »Dieses hier wirkt nur durch den Kontrast der Farben so provozierend. Ihr seid sehr wohl schicklich gekleidet.«
Graciana behielt ihre weiteren Zweifel in dieser Angelegenheit für sich. Arlette hatte sich ihrer Garderobe angenommen und gemeinsam mit Dame Lucile de Tréboule für Gewänder gesorgt, die keinen anderen Zweck hatten, als Gracianas Schönheit in den richtigen Rahmen zu stellen. Keines jedoch tat es so raffiniert wie diese pflaumenblaue Robe aus schwerer, glänzender Seide.
Im Schatten wirkte sie fast schwarz, sobald sich jedoch das Licht der Kerzen in den Fäden des Stoffes fing, wirkte er wie eine lebendige Welle, die sich an Gracianas Körper schmiegte. In jeder Schattierung betonte die Seide die durchsichtige Zartheit ihrer Haut, das klare Bernstein ihrer Augen und das eine Spur hellere Blond ihrer üppigen Locken, die sich offen und schwer bis auf ihre Taille weilten. Arlette hatte sie lediglich mit zwei schlichten Perlenkämmen aus dem Gesicht gehalten. Kein Schleier, kein Stirnreif, keine Haube lenkte von dem Wasserfall aus mattem, flüssigem Gold ab.
Auch das Kleid verzichtete auf Pelzbesatz, auf Spitzen, Stickereien oder Juwelenbesatz. Unter dem spitz zulaufenden Ausschnitt am Busen von einem breiten Gürtel aus dem gleichen Stoff gehalten, fiel es in reichem Faltenwurf auf Gracianas Fußspitzen und endete in einer kleinen Schleppe.
Als Graciana die festlich erhellte Halle der Burg betrat, gefolgt von ihrer Magd und die Hand auf die Faust Pol de Pélages gelegt, stand Kérven wie unter Zwang von seinem Platz auf.
Er trug das gleiche Gewand wie bei ihrer Ankunft, aber immerhin hatte er Harnisch und Waffen abgelegt. Er wahrte die Form, woran Graciana im Grunde ihres Herzens doch gezweifelt hatte. Die Halle war voller Menschen. Die Besatzung der Burg, das Gesinde und sogar ein paar vornehm gekleidete Herren, die vermutlich den Rat der kleinen Stadt Lunaudaie repräsentierten, sahen ihr entgegen.
Schweigend trat Kérven an ihre Seite und hielt ihr seinerseits die Faust hin, damit er sie zu Tisch geleiten
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