Graciana - Das Rätsel der Perle
was er plant!«
Ludo zuckte zusammen, und plötzlich erkannte sie, dass er den Tränen nahe war. Dass er in höchster Verzweiflung war und nicht wusste, was er tun sollte.
»Er will fort«, rief er wütend und sah sie vorwurfsvoll an. »Ihr habt ihn vertrieben! Dabei wollte er seit Jahren nur zurück nach Lunaudaie! Jetzt seid Ihr gekommen, und er muss fort!«
»Welch ein Unsinn!«, antwortete Arlette an Stelle ihrer sprachlosen Herrin. »Er soll Dame Graciana heiraten und nicht davonlaufen, geht das nicht in deinen Holzkopf? Wo steckt dein Herr? Willst du, dass er sich unglücklich macht und vom Herzog für vogelfrei erklärt wird? Er handelt gegen diesen Befehl!«
»Das tut der Herzog nicht«, meinte Ludo eigensinnig. »Nicht, wenn er das macht, was er plant!«
»Jetzt reicht’s!«
Sowohl Arlette als auch Ludo zuckten verblüfft zusammen. Einen solchen Ton hatten sie bei Graciana noch nie gehört. Die Männer Paskal Cocherels hätten ihn erkannt und den beiden geraten zu gehorchen. Aber das taten sie ohnehin bereits!
Graciana packte Ludo an seinem misshandelten Ohr und zwang ihn, in ihre Augen zu sehen. Es war ein beängstigender Blick, dem er sich ausgesetzt fand. Der Blick einer Löwin, die sich bedroht sieht und kein Erbarmen kennt. Ein Blick voller Unbeugsamkeit.
»Du sagst mir jetzt auf der Stelle, wo dein Herr ist und was er tut, oder ich reiße dir dieses unnütze Ohr ab!«, verkündete sie kalt.
Ludo zweifelte keinen Herzschlag daran, dass sie es tun würde. Er schniefte erschreckt und hielt mit Mühe ein paar höchst unmännliche Tränen zurück.
»Er ist bei Pater Raoul in der Burgkapelle«, antwortete er widerstrebend. »Er ... er legt die Beichte ab, ehe er sich auf den Weg macht!«
»Die Beichte?« Graciana runzelte nachdenklich die Stirn. »Was hat er vor?«
»Er ... er will ins Heilige Land zu den Tempelrittern!«, heulte der Page auf. »Er sagt, er will für seine Sünden büßen und sein Leben im Kampf gegen die Heiden einsetzen. Er sagt, er hat nicht länger das Recht, der Herr von Lunaudaie zu sein! Ihr seid jetzt die Herrin der Burg, und wir sollen Euch gehorchen!«
»Bei Gott!« Graciana ließ abrupt das rote Bubenohr los und holte zitternd Atem. »Das darf nicht wahr sein! Ich bringe ihn um!«
Sie stürmte hinaus, ohne ein weiteres Wort. In Nachtgewand und Hausmantel, barfuß! Mit wehenden Haaren wie eine Furie der Nacht! Es sah so wild und erschreckend aus, dass Ludo keinen Moment daran zweifelte, dass sie tun würde, was sie plante.
»Wir müssen ihm helfen!«, schrie er und packte Arlette am Arm.
»Wir müssen ihr helfen«, verbesserte Arlette und lief mit ihm hinterher.
Graciana hingegen kümmerte sich nicht im Geringsten um die beiden. Auf bloßen Sohlen lief sie die steinerne Wendeltreppe in den großen Saal hinunter. Sie stolperte über ein paar Schläfer, die dort im Stroh lagen, und erreichte das große Tor, das glücklicherweise nicht verriegelt war. Sie riss es in fieberhafter Hast auf, ohne sich um den Schwall feuchtkalter, eisiger Luft zu kümmern, der über die Schläfer strich. Hals über Kopf eilte sie über die schlüpfrigen, winterlich kalten Stufen des Eingangs, weiter über das unebene Kopfsteinpflaster des Burghofes, bis hinüber zum Kapellenturm auf der anderen Seite.
Sie rutschte ein paarmal aus, aber es gelang ihr, das Gleichgewicht zu wahren. Sie riss sich die Fingernägel ein, als sie im Dunkeln den Riegel der Kapellentür suchte, aber nicht eines dieser Hindernisse drang wirklich in ihr Bewusstsein.
Während sie sich unwillkürlich bekreuzigte, nahmen ihre Augen die Szene vor dem Altar in sich auf. Im Schein von zwei mächtigen Kerzen kniete dort Kérven des Iles, in voller Kriegsrüstung, aber barhäuptig und mit gefalteten Händen. Pater Raoul schlug eben das Kreuz über ihm, als Graciana wie ein Gespenst aus dem Dunkel auftauchte, in wilder ungezähmter Schönheit und mit dem Ausdruck purer Mordlust in den flammenden Augen.
»Das werdet Ihr nicht tun, Kérven des Iles!«, rief sie in hellem Zorn, und der Ritter fuhr verblüfft auf den Knien zu ihr herum.
»Graciana! Bei Gott, was ...«
»Nehmt den Namen des Herrn nicht zum Fluchen in den Mund«, schrie sie völlig außer sich. »Ihr werdet nicht wie ein Dummkopf davonlaufen und Euer Leben im Kampf gegen die Heiden fortwerfen! Ich verbiete es Euch! Ihr habt nicht das Recht dazu!«
Pater Raoul, der Graciana bisher als eine höchst zurückhaltende, elegante und fromme Edeldame kennen gelernt
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