Graciana - Das Rätsel der Perle
konnte. Pol de Pélage überließ ihm Graciana, und Kérven spürte, wie eiskalt ihre Finger waren.
War sie aufgeregt? Wann hatte er verlernt, in ihrem Gesicht zu lesen? Er sah nur den Schmelz ihrer schönen Lippen und die leichte Herausforderung des goldenen Blickes. Litt sie unter dem Befehl des Herzogs? Fühlte sie sich von der aufgezwungenen Heirat gedemütigt?
»Ihr seht mich entzückt«, sagte sie jetzt in jenem fremden, zwitschernden Ton, den sie den Hofdamen seiner Gnaden abgelauscht haben musste. »Wie sich diese Halle doch verändert hat, seit ich sie zum letzten Mal sah. Ein paar Glasfenster und Wandteppiche wirken wahre Wunder! Wie prächtig es hier plötzlich ist!«
Machte sie sich lustig über ihn? Kérven schwankte zwischen dem brennenden Wunsch, sie in seine Arme zu reißen, und dem, ihr den Hals umzudrehen. Wie konnte sie völlig beherrscht dastehen und lächeln? Wann hatte sie gelernt, ihre Gefühle so perfekt unter der Maske einer heiteren Edeldame zu verbergen?
»Es war Euer Werk, und die Handwerker der Stadt sind Euch zu Dank verpflichtet«, entgegnete er mürrisch und wartete, bis sie zu seiner Rechten Platz genommen hatte, damit er sich ebenfalls setzen konnte. Nur mit Mühe entsann er sich der höflichen Regeln. »Obwohl ich geplant hatte, die Zuwendungen des Herzogs zuerst für Befestigungen und Waffen auszugeben!«
»Ihr werdet genügend Waffen in den Fuhrwerken finden«, meinte Graciana beiläufig. »Ich bin sicher, der Seigneur de Mar und viele Menschen in der Burg werden im Winter für die Fenster dankbarer sein! Es ist nicht gemütlich, wenn der Wind zum Fenster hereinpfeift und die Böden, auf die man die Strohsäcke legt, unter Wasser stehen.«
Dass sie mit dieser Bemerkung nur zu recht hatte, hob Kérvens Laune nicht im Geringsten. Er verfiel in gereiztes Schweigen, was ihn jedoch nicht daran hinderte, Graciana unter halb gesenkten Lidern ständig zu beobachten. Er bemerkte die Wärme, mit der sie sich Fiacre de Mar zuwandte, die unmerklichen Gesten, mit denen sie Rose und das Gesinde dirigierte. Diese Frau war noch keinen halben Tag in der Burg, und alle schienen sich bereits nach ihr zu richten.
Sie wäre eine vollkommene Herrin für Lunaudaie. Eine vollkommene Gemahlin für einen Mann, der es wert war, sie zu bekommen, geißelte er sich selbst. Allerdings sollte es wenigstens einer sein, der sie davon abhielt, dermaßen aufreizende Gewänder zu tragen. Der Anblick brachte einen vernünftigen Mann förmlich um den Verstand! Das spitz zulaufende Dekolleté machte kein Geheimnis daraus, was für Brüste sie hatte, wie cremeweiß und üppig sie waren.
Unwillkürlich erinnerte er sich an ihre letzte Begegnung, und er sah Graciana wieder vor sich, wie sie sich aus ihrer aufreizenden Position über dem Schreibtisch des Herzogs erhoben hatte. Sicher war sie die einzige Frau auf Gottes Erdboden, die in einer solchen Situation nicht in Gezeter ausbrach.
Die Qual, die die Erinnerung daran bei ihm verursachte, trug nicht eben dazu bei, seine Laune zu heben. Er wollte sein Gesicht zwischen diesen Brüsten vergraben und wollte sie liebkosen, sie dazu bringen, dass sie ihn anflehte, ihr Verlangen zu erfüllen und sich ganz mit ihr zu vereinen.
»Es ist warm in der Halle, nicht wahr ...«, sagte sie in diesem Moment so mitfühlend, dass sich die Schweißperlen auf seiner Stirn vervielfältigten. Hastig griff er nach dem Weinpokal.
»Ich hoffe, Ihr werdet nicht wieder soviel trinken wie bei dem letzten Mal, als wir einander sahen«, fügte sie sanft hinzu.
Jetzt lief er endgültig knallrot an und hieb den Pokal zurück auf den Tisch. Wollte sie ihn damit warnen, dass er ihr nicht wieder zu nahe treten sollte? Wollte sie damit andeuten, dass sie Angst vor ihm und den Dingen hatte, die er ihr antun wollte?
»Keine Sorge«, erwiderte er schroff, dann zwang er sich zum Gleichmut. »Ich werde mich zu beherrschen wissen!«
»Das freut mich zu hören«, entgegnete Graciana und lehnte sich dabei so nahe zu ihm, dass er den sanften Druck der Brüste spüren konnte und genau in das verlockende Tal dazwischen sah.
Sie dagegen bemerkte die feinen Schweißperlen an seiner Schläfe und die Bewegung seiner Kehle, als er schluckte. Arlette entpuppte sich als wahrer Schatz mit ihren Ratschlägen, wie man einem Manne zu begegnen hatte, dem man den Kopf verdrehen wollte. Sie setzte sich wieder gerade und führte ihre Unterhaltung mit Fiacre de Mar fort, als hätte es die kurze Berührung nie
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