Graciana - Das Rätsel der Perle
ohne nachzudenken handelte.
»Verzeiht«, wisperte sie heiser und schlug die Augen nieder, wie es sich gehörte. »Ich bin Euch auch unendlich dankbar für Eure Hilfe. Aber ... es gibt niemanden mehr, zu dem ich gehen könnte. Die Söldner haben alle getötet. Ich ... ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin allein auf dieser Welt ...«
Sie hob den Blick erneut, und im zunehmenden Licht des Tages entdeckte sie, dass seine Augen nicht dunkel waren, wie sie anfangs gedacht hatte, sondern von einem tiefen, reinen Blau. Auch im Dunkel seiner Haare blitzten plötzlich braune und rötliche Lichter. Sie unterdrückte den närrischen Impuls, mit den Fingerspitzen durch diese dichte, wellige Mähne zu fahren.
Der Seigneur hatte derlei Skrupel nicht. Er fasste nach einer der dichten Strähnen, die sich wie ein wirrer Mantel um Gracianas Schultern legten. Sie erinnerten ihn an die Stränge schwerer Stickseide, die seine verstorbene Mutter in ihrem Handarbeitskorb gehabt hatte. Wie die Kleine wohl aussah, wenn man sie in eine Badestube steckte und ihr vernünftige Kleider anzog?
»Komm mit uns«, sagte er aus diesen Gedanken heraus spontan. »Ich möchte wetten, dass sich in Lunaudaie oder in Rennes ein Platz für dich findet!«
Das angestrengte Hüsteln, mit dem sich Ludo über die Gepäckstücke des Seigneurs beugte, sagte jenem, dass der Knappe sehr wohl die Hintergedanken seines Herrn in dieser Sache durchschaute. Kérven warf ihm einen strengen Blick zu, und der Page wandte sich mit hochrotem Kopf ab. Dann lächelte er Graciana an, und dieses Lächeln traf sie noch unvorbereiteter als die plötzliche Freundlichkeit in seiner Stimme.
Wenn er nicht knurrte oder befahl, hatte er die melodische Stimme eines Sängers. Und auch sein Lächeln veränderte ihn völlig, und diese Verwandlung sorgte für ein merkwürdiges, sehnsüchtiges Ziehen in Gracianas Herzen.
»Habt Dank ...«, murmelte sie verlegen und griff mit beiden Händen nach dem Strohhalm, den ihr das Schicksal mit diesem Angebot reichte.
In einer Mischung aus Ahnungslosigkeit und Eigensinn beschloss sie eines: Freiwillig würde sie sich nie wieder hinter die Mauern eines Klosters begeben. Egal, was immer sie Mutter Elissa versprochen hatte. Wenn es eine Sünde war, dieses Versprechen zu brechen, so nahm sie diese Missetat ohne das geringste Zögern auf sich. Schlimmer als das, was hinter ihr lag, konnten auch die Feuer der Verdammnis nicht sein.
»Ludo, sieh nach, ob du irgendwo etwas zu essen für uns auftreiben kannst«, kommandierte der Seigneur weiter. »Und dann sorgst du dafür, dass auf einem der Wagen ein Platz für Graciana geschaffen wird. Ich nehme nicht an, dass du reiten kannst?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie besaß eine Menge Fähigkeiten für eine junge Frau, denn Mutter Elissa schätzte keinen Müßiggang. Aber niemand war auf die Idee gekommen, sie reiten zu lehren. Das Kloster besaß ohnehin lediglich ein altes Maultier, das gehorsam schwere Lasten schleppte.
»Gut, dann ...« Kérven zögerte und runzelte erneut die Stirn. Das zerrissene Mieder, der schmutzige Rock und die bloßen, zerkratzten Füße des Mädchens nahm er erst jetzt wahr. »Zum Henker, man wird mich auslachen, wenn man dich in diesen Fetzen sieht. Da, leg das über, wenn wir aufbrechen!«
»Das« war ein weiter Reiterumhang aus feinster dunkelblauer Wolle mit einer silbernen Schließe, der Graciana zwar viel zu groß war, sie aber trotzdem himmlisch warm und weich umhüllte. Sie vergrub ihre klammen Finger in den dichten Falten und legte das Kleidungsstück hastig um. Sie zog sogar die Kapuze über die Haare, sie war es nicht gewohnt, ohne Kopfbedeckung zu gehen. Danach fühlte sie sich gleich besser, und jetzt erkannte sie auch, dass das eigenartige Gefühl in ihrem Magen schlicht Hunger war.
Ehe Kérven das Zelt verließ, drehte er sich aus einem plötzlichen Impuls heraus noch einmal zu ihr um. Von der dunklen Kapuze des Umhanges umrahmt, waren nur noch Gracianas Züge zu sehen. Kostbar wie die Elfenbeinschnitzerei eines Altarbildes mit Augen aus purem Feuer. Beileibe keine Magd und keine Dirne, auch keine Marketenderin. In diesem Moment war er überzeugt, dass sie jeder Dame am Hofe des Herzogs das Wasser reichen konnte.
Welch ein Segen, dass sie nicht in diese edlen Reihen gehörte. Dass sie nur eine Magd war, die ihm gehörte. Ein Gedanke, der ihn mit zunehmender Genugtuung erfüllte und ihn dazu veranlasste zu pfeifen, als er sich abwandte, um nach den Pferden
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