Graciana - Das Rätsel der Perle
schmutzige Bündel mitzunehmen. Weniger weil er ihr recht gab, sondern weil er inzwischen gelernt hatte, was dieser eigensinnige Zug um ihre Mundwinkel bedeutete. Er warnte ihn davor, eine Diskussion weiterzuführen, die ihn nur Zeit kostete, und nichts einbringen würde.
Ludo stolperte vor Schreck über die eigenen Schuhspitzen, als ihm klar wurde, dass es sich bei der stolzen Dame nicht um Marguerite de Rohan, sondern um die schmutzige Dirne handelte, die sein Herr bei Auray aufgelesen hatte. Er blinzelte den letzten Rest Schlaf aus den Augenwinkeln und unterdrückte im letzten Moment einen bewundernden Pfiff.
Dann erinnerte er sich so weit an die höfische Erziehung, die er genossen hatte, dass er die Schale mit der dampfenden Gerstensuppe, die für seinen Herrn bestimmt gewesen war, vor Graciana abstellte.
Kérven bemerkte es und hob die Brauen.
»Ka-Kann ich Euch sonst noch etwas bringen?«, stammelte der Page und sah Graciana bewundernd an.
»Das kannst du!«, erinnerte ihn sein Herr spöttisch. »Wie wäre es zum Beispiel mit meinem Frühstück? Oder nimmst du an, dass ich künftig selbst in die Küche gehe und mir dort mein Essen suche, mein junger Freund?«
Ludo machte blitzartig kehrt und verschwand unter den Steinbogen, aus dessen Schatten er vorhin aufgetaucht war. Kérvens Hauptleute, die am unteren Ende des riesigen Schragentisches saßen, schauten sich grinsend an, aber die grimmige Miene ihres Seigneurs hielt sie davon ab, Witze über den Vorfall zu reißen. Er hatte den Ruf eines großen Kämpfers, gerechten Anführers und mutigen Mannes, aber es war immer besser, sich nicht mit ihm anzulegen, weil man unweigerlich den Kürzeren zog.
»Nehmt meine Mahlzeit!« Graciana schob ihre Schale in Kérvens Richtung. Sie wollte nicht, dass Ludo ihretwegen Schwierigkeiten bekam. »Ich wollte nicht ...«
»Iss!«, fiel er ihr barsch ins Wort. »Wir haben einen langen Weg vor uns, und du wirst deine Kräfte gewiss noch brauchen!«
Graciana senkte eingeschüchtert den Kopf – aber nur für einen Moment.
»Einen langen Weg – wohin?«, fragte sie dann.
Kérven spürte, dass auch die Männer am Tischende auf seine Antwort warteten. Bisher wusste nur Ludo, das Lunaudaie wieder in seinem Besitz war und dass der Herzog das Unrecht, das ihm, Kérven, im Verlaufe der Auseinandersetzungen mit Karl von Blois angetan worden war, auf so großzügige Weise wieder gutgemacht hatte.
»Nach Hause. Nach Lunaudaie!«, entgegnete er knapp.
»Nach Hause ...«, wiederholte Graciana und merkte gar nicht, wie traurig ihre Stimme plötzlich klang. Zu Hause – das war bisher Sainte Anne für sie gewesen. »Ich habe kein Zuhause mehr ...«
»O doch!«, widersprach der Seigneur und dämpfte seine Stimme, so dass nur Graciana hören konnte, was er sagte. »Lunaudaie ist künftig auch dein Zuhause! Und du wirst es nur verlassen, wenn ich damit einverstanden bin! Gib mir dein Wort darauf.«
Graciana stutzte. »Wie meint Ihr das? Bin ich Eure Gefangene?«
Der Ritter bedachte sie mit einem unergründlichen Blick. »In Lunaudaie bin ich der Herr, und du wirst dich nach meinen Befehlen richten. Jetzt iss!«
Zu gern hätte sie widersprochen, aber sie konnte der Verlockung des Essens nicht widerstehen. Sie zupfte das weiße, duftende Brot in kleine Bröckchen, die sie in Suppe tunkte, ehe sie es in den Mund schob. Weißes Brot mit einer knusprigen Rinde. Frisch gebacken und wunderbar zart, ohne die kleinsten Spelzen.
Was auch immer ihr neues Leben für sie bereithielt, eines konnte sie schon jetzt sagen: Das Essen war so köstlich wie noch nie.
7. Kapitel
Das sind die Türme von Lunaudaie!« Graciana hörte den Stolz, der aus Kérven des Iles’ Worten klang. Mächtige Spitzhauben überragten die waldige Umgebung und das kleine Städtchen zu Füßen der Berge. Auf den ersten Blick wirkte sie nicht viel anders als Josselin. Doch je näher sie kamen, um so deutlicher wurden die verheerenden Wunden, die Lunaudaie ebenso wie die übrige Bretagne davongetragen hatte.
Nur wenige der Felder waren bestellt; die schützende Mauer um den Ort war an der Ost- und Südseite geschleift worden, und zwischen den Häusern klafften Lücken. Auf dem gepflasterten Weg zur Burg begegnete ihnen keine Menschenseele, und das Banner, das auf dem Hauptturm wehte, war so zerschlissen, dass es beim besten Willen nicht mehr möglich war, das aufgestickte Wappen zu erkennen.
Graciana, die vor dem Ritter im Sattel saß, drehte sich halb nach ihm um. Sein
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