Graciana - Das Rätsel der Perle
um ihn her die Menschen abgeschlachtet wurden und seine eigene Tochter am Rande des Todes stand. Er lachte und lachte ...
Für einen solchen Schurken gab es nur eine Strafe. Den Tod. Ein Sterben, das ihn all die Verächtlichkeit, all das Leiden und all den Schmerz spüren ließ, den er verursacht hatte. Mutter Elissas befehlende Stimme dröhnte in ihrem Kopf, aber es war nicht mehr die Aufforderung zu beten und zu sühnen.
»Töte ihn! Töte ihn und räche deine Mutter! Räche die frommen Frauen von Sainte Anne! Du bist die Einzige, die es tun kann! Die Einzige, die überlebt hat! Töte ihn! Das ist der Sinn deines Daseins!«
»Aber das ist Mord!«, erwiderte Graciana verstört und wich vor dem Feuer und der grässlichen Forderung zurück. »Das sechste Gebot sagt, du sollst nicht töten! Es ist eine Todsünde!«
»Töte den Herzog!«, befahl die Stimme, und Graciana duckte sich unter der Wucht dieses Befehls. »Töte Paskal Cocherel, oder du wirst selbst getötet werden!«
»Ich gehorche. Ich töte den Herzog!«, wisperte sie ergeben.
Kaum hatte sie das gesagt, stiegen die Flammen noch höher und drohten sie zu versengen. Im letzten Moment riss eine starke Hand sie an der Schulter nach hinten. Sie wurde geschüttelt und angeschrien. Verwirrt schlug sie die Augen auf und hatte im ersten Moment keine Ahnung, wo sie sich befand.
»Was ist ...«, murmelte sie und schaute in das fassungslose Antlitz des Ritters, der ihre Schultern gepackt hielt, als wolle er die Knochen unter seinen Händen zermalmen.
»Das sollte ich wohl eher dich fragen«, rief er. »Was schreist du von Mord und Totschlag mitten in der Nacht?«
»Ich weiß nicht ...« Graciana wich seinem Blick aus und schlug den Blick nieder.
Der Schrecken des Traumes hallte in ihr nach. Sie konnte in diesem Augenblick nicht erkennen, was Wirklichkeit und was Traum war. Sie zitterte am ganzen Leib, und kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn.
»Wen willst du töten?«, beharrte der Ritter, der ganz aufgewühlt war von der Qual, die sich in Gracianas gemurmelten Worten gezeigt hatte.
»Ich soll ihn töten, den Herzog ... aber das kann ich doch nicht«, stammelte Graciana, noch immer verwirrt. »Es ist eine Sünde!«
Kérven des Iles erstarrte. Mit einem Schlag glaubte er, das Rätsel um Graciana gelöst zu haben. Er hatte recht gehabt, sie war nicht die Frau, für die sie sich ausgab! Aber sie war auch keine Lagerdirne! Sie war eine Spionin, eine Attentäterin, ein Werkzeug Paskal Cocherels! Nur er konnte jetzt noch ein Interesse daran haben, Jean de Montfort zu bedrohen. Karl von Blois war bereits tot. Wenn auch Montfort sein Leben ließ, gab es niemanden mehr, der die Bretagne vor dem Söldnerführer schützen konnte. Der König war viel zu weit weg, um etwas unternehmen zu können.
»Ich muss geträumt haben!«, sagte Graciana verwirrt. Endlich nahm sie ihre Umgebung richtig wahr, die letzte Glut des Feuers, die starken Arme, die sie schützend hielten. Sie war nicht mehr in Sainte Anne. Das hier war die Burg von Josselin!
»Du hast geträumt«, bestätigte Kérven und ließ sich mitsamt dem Mädchen wieder in die Kissen sinken. Solange er sie fest hielt, würde nichts geschehen, und morgen konnte er darüber nachdenken, was er tun musste. »Vergiss, was du geträumt hast. Es ist nicht mehr wichtig. Du wirst niemanden töten!«
Seine Worte beruhigten Graciana. Die Wange an seine warme, glatte Schulter gedrückt, fand ihr Atem zu seinem normalen Rhythmus zurück, und ihre Augen schlossen sich von selbst. Sie schlief wieder ein. Dieses Mal jedoch träumte sie nichts.
Der Seigneur hingegen blieb wach und beobachtete, wie die Morgendämmerung nach und nach durch die kostbaren Glasrauten zwischen den Bleistreben des Fensters drang. Der Schlaf mied ihn, denn hinter seiner Stirn überschlugen sich die Gedanken. Die Vernunft forderte ihn auf, Graciana unverzüglich nach Rennes zu bringen und dort dem Profos des Herzogs zu übergeben, ehe sie Schaden anrichten konnte. Aber seine Gefühle rieten ihm etwas anderes.
Denn er war immer noch erfüllt von der berauschenden Lust, die sie ihm geschenkt hatte. Noch nie zuvor hatte ihm eine Frau soviel Freude gegeben. Wäre es nicht eine Sünde, diesen entzückenden Körper den Händen des Henkers zu überlassen? Und war da nicht etwas Eigenartiges und sehr Seltsames um diese junge Frau?
Sie machte wahrhaftig nicht den Eindruck einer hartgesottenen Mörderin. Irgendwie erinnerte sie ihn an ein kleines Vögelchen, das
Weitere Kostenlose Bücher