Graciana - Das Rätsel der Perle
in die kleine Nische mit dem Abtritt, die hinter einem Wandteppich verborgen war, und erschauerte in der morgendlichen Kühle. Als sie wieder zurückkam, kämpfte Kérven bereits mit seinen Beinlingen und aß die letzten Trauben, die von ihrem abendlichen Mahl übrig geblieben waren.
Verblüfft nahm Graciana das Chaos wahr, das ihr kurzer Aufenthalt in diesem vorher so ordentlichen Gemach verursacht hatte. Nur ihre schmutzigen Kleider lagen ordentlich gefaltet auf dem Hocker neben dem Badzuber, in dem sich das wunderbare Wasser in eine dreckige Brühe verwandelt hatte. Kérvens Waffen, seine Stiefel, sein Umhang lagen überall verstreut. Fluchend suchte er nach dem zweiten Stiefel, den er nirgends fand.
»Wenn Ihr sie gestern ordentlich nebeneinander gestellt hättet, bräuchtet Ihr Euch jetzt nicht zu ärgern«, stellte sie fest. Beim Klang ihrer Stimme fuhr Kérven herum und stieß daher mit der Schulter schmerzhaft gegen den Bettpfosten.
»In der Tat«, meinte er verblüfft, dann begann er plötzlich und unerwartet zu lachen, und ihr gefiel der Klang seines Lachens so gut, dass sie unwillkürlich mit einem Lächeln darauf reagierte. »Damit könntest du recht haben!«
Seine letzten Worte wurden immer leiser, verklangen schließlich. Völlig hingerissen starrte er Graciana an. Sie hatte ihn schon fasziniert und angezogen, als sie schmutzig, traurig und verzweifelt war. Ihre Leidenschaft hatte ein helles Feuer in ihm entfacht – aber ihr Lächeln war eine Offenbarung. Es konnte einen Mann in einen Narren verwandeln und ihn zum Träumen bringen.
Graciana bemerkte nichts von seinen Gedanken. Sie zog eben das zyklamenfarbene, verblasste Untergewand über ihr Hemd, das zu Dame Jolanthes abgelegtem Gewand gehörte. Ihr jedoch kam es wie eine prachtvolle Festrobe vor. Der helle Rotton entzückte ihre Augen, denn sie hatte noch nie etwas anderes als naturfarbenes Leinen, braune oder schwarze Gewänder getragen. Unwillkürlich strich sie mit den Fingerkuppen über die weiche Wolle des Gewebes, ehe sie die bestickten Bänder am Hals und den Handgelenken schloss.
Kérven war in Bezug auf seine Stiefel fündig geworden und schlüpfte hinein, ohne seinen Blick von Graciana zu lassen. Die dunkelblaue Tunika, die zu ihrem Gewand gehörte, hatte keine Ärmel und fiel in gerader schmuckloser Linie bis kurz über ihre Füße. Die lockere Schnürung an der Seite ließ das weite Untergewand hervorquellen und betonte ihre schlanke Gestalt. Hochgeschlossen, langärmelig und aus praktischer Wolle war es ein hübsches, aber beileibe nicht prächtiges Ensemble, und doch verwandelte es Graciana, machte aus dem einfachen Mädchen eine Dame.
Sie flocht mit geübten, geschickten Fingern zwei dicke Zöpfe und suchte vergeblich nach Nadeln, um sie auf ihrem Kopf festzustecken. Es fanden sich nur zyklamenfarbene Bänder, die verhinderten, dass ihr Flechtwerk sich von selbst löste. Bei den Bändern lagen auch ein paar weiße, dünne Strümpfe und passende Strumpfbänder sowie ein paar flache, weiche Schuhe aus dunkelblauem Ziegenleder. Schon die Farbe ließ keinen Zweifel zu, sie gehörten zu diesem Ensemble.
Geradezu andächtig schlüpfte Graciana hinein. Sie waren eine Spur zu klein, aber das störte sie nicht. Es war einfach himmlisch, einen so schönen, weichen Schuh zu tragen.
Der Ritter war indes bei seinem Schwertgehänge angelangt und rückte den Harnisch zurecht, den er unter seinem Umhang trug.
»Wenn du fertig bist, komm!«, befahl er knapp. »Ich nehme an, dass wir in der Halle einen Morgenimbiss vorfinden, und ich hoffe zu Gott, dass Ludo, dieser kleine Faulpelz, nicht noch irgendwo schlummert, damit ich ihn suchen muss! Was tust du da?«
»Ich nehme meine alten Kleider mit«, erklärte Graciana und stopfte das Bündel schnell unter ihren Arm.
»Was willst du mit diesem Plunder? Am besten wirfst du das Zeug ins Feuer!«
»Nein!«, antwortete sie trotzig und schob das Kinn vor. »Sie sind mein einziger Besitz. Wenn man sie wäscht und flickt, kann man sie wieder tragen!«
Sie konnte ja schlecht darauf hinweisen, dass in den Säumen des zerfetzten Rockes ein kleines Vermögen versteckt war und sie keine andere Möglichkeit sah, die kostbare Perle an sich zunehmen und trotzdem vor seinen Augen zu verbergen.
»Ich werde nie wieder erlauben, dass du solche Fetzen trägst«, erklärte der Seigneur. »Du gehörst zu mir, da gehört es sich nicht, dass du wie eine zerlumpte Magd herumläufst.«
Dennoch gestattete er ihr, das
Weitere Kostenlose Bücher