Graciana - Das Rätsel der Perle
stören. »Worüber regst du dich auf? Bist du tot, oder lebst du? Warum vertraust du mir nicht endlich?«
»Ach verflixt, Ihr seid unmöglich!«, platzte Graciana heraus und duckte sich im selben Moment, als erwarte sie, dass er diese Keckheit auf der Stelle mit einem Schlag bestrafen würde.
»Mag sein«, erwiderte er und grinste. »Auf jeden Fall siehst du bezaubernd aus, wenn du mich anfunkelst, als wolltest du mich in Flammen setzen. Willkommen auf Lunaudaie, meine schöne Löwin, möge der Himmel deinen Eintritt segnen!«
Kérven konnte selbst nicht sagen, weshalb er sie im Angesicht seiner Burg so zeremoniell willkommen hieß. Vielleicht, weil sie so sehr einer stürmischen Kriegerin glich, die jeden Moment ihr Schwert ziehen wollte. Es schien ihm besser, sie zum Freund als zum Feind zu haben.
»Willkommen zu Hause, Seigneur!«
Endlich betrachtete Kérven des Iles auch das kleine Häufchen Getreuer, das sich zu seinem Empfang versammelt hatte. An ihrer Spitze stand Fiacre de Mar, Ludos weißhaariger Großvater, dessen Sohn Burgvogt gewesen und bei den Kämpfen um das Lehen von einem Armbrustbolzen getötet worden war. Hier standen in erster Linie die ganz Alten und die ganz Jungen sowie das Weibervolk von Lunaudaie. Die meisten der wehrfähigen Männer, die Kérven vor vielen Jahren zum Schutze des Lehens zurückgelassen hatte, waren im Kampf gefallen.
Sein Lächeln machte plötzlichem Ernst Platz, und er schwang sich aus dem Sattel, hob Graciana herab und stellte sie vor sich auf die Erde. Er wandte sich an den alten Mann, der sich schwerfällig vor ihm auf die Knie geworfen hatte. Er zog ihn hoch und schloss ihn dann gerührt in seine Arme.
»Es ist vorbei«, hörte Graciana ihn murmeln. »Jetzt kehrt Frieden im Land ein. Ich habe Männer, Gold und Möglichkeiten mitgebracht, und ich bringe dir Ludo, der dein Leid mildern wird!«
Erst jetzt bemerkte Graciana die Ähnlichkeit des alten Mannes mit dem flinken Ludo, der ein Stück hinter ihnen noch im Sattel saß und sich umschaute, als suche er nach den Menschen, die sich nicht zu diesem Empfang eingefunden hatten.
Doch Kérven des Iles ließ nicht zu, dass die Trauer überhand nahm. Seine Befehle prasselten wie ein Platzregen herab und brachten im Nu Leben in die Menschen. Reiter wurden zu Stallknechten, Bogenschützen zu Bauern und Krieger zu Burgwachen. Die Ställe füllten sich mit den Pferden, die Fuhrwerke wurden entladen und die Vorräte in die leeren Kammern gebracht.
Graciana sah sich neugierig im Burghof um. Die mächtigen Granitmauern hatten nicht unter den Angriffen gelitten, aber zwei der fünf Türme, die das unregelmäßige Fünfeck des Burgareals begrenzten, waren nur noch von geschwärzten Balken gekrönt. Ihre Türen hingen schräg in den Angeln, und die Spuren von Feuer waren an den Wänden zu erkennen.
Im breiten Wohntrakt, der sich massiv gegen den allgegenwärtigen Westwind stemmte, gähnten leere Fensterhöhlen, und im Kapellenturm fehlte die Glocke. Die Männer des Herrn von Blois hatten Lunaudaie nicht zerstören können, aber sie hatten es gründlich geplündert. Und bisher schien sich niemand die Mühe gemacht zu haben, auch nur die gröbsten Schäden zu beseitigen. Graciana hatte den Eindruck, als seien die Menschen hier eben erst aus ihren Höhlen gekrochen.
Ihr Blick kehrte zu Kérven des Iles zurück, im selben Moment, als er sich ihrer Anwesenheit wieder erinnerte und in seiner üblichen herrischen Art nach ihrem Arm griff. Man konnte fast den Eindruck bekommen, er befürchte, dass sie mit gerafften Röcken davonlaufen würde. Er hatte auch nicht mehr zugelassen, dass sie auf dem Wagen reiste, sondern sie vor sich auf seinem Pferd sitzen lassen.
»Gehen wir ins Haus. Ich fürchte jedoch, wir werden nicht den Komfort wie in Josselin vorfinden, nach allem, was hier geschehen ist ...«
»Lunaudaie ist nicht mehr das, was ihr gewohnt seid, Seigneur«, entschuldigte sich der weißhaarige Mann und gab seinen Enkel frei, den er in die Arme geschlossen hatte. »Es fehlt uns selbst am Nötigsten ...«
»Das ist vorbei!«, tröstete Kérven den Alten und ging so schnell die vier Stufen zu der doppelflügeligen Tür hinauf, dass Graciana kaum Schritt halten konnte.
Am Eingang blieb er jedoch stehen. Graciana schaute sich um. Die Westseite der großen Halle von Lunaudaie war von halbrunden, schlanken Fensterhöhlungen durchbrochen, deren Rahmen Meisterwerke der Steinmetzkunst darstellten. Doch der Wind pfiff durch die leeren
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