Graciana - Das Rätsel der Perle
Sehnsucht nach ihr so weit, dass er diesen Spott ertragen konnte?
Trotzdem, in diesem einsamen Augenblick zwischen tiefster Nacht und erstem Morgen hätte Kérven des Iles sogar sein Anrecht auf die ewige Seligkeit hingegeben, um Graciana noch einmal in seine Arme schließen zu können. Sie hatte ihn mit dem fatalen Gefühl zurückgelassen, dass er ohne sie nur ein halber Mensch war.
Graciana. Falls jene Graciana, die Pol de Pélage geliebt hatte, ihrer Namensvetterin auch nur im Geringsten geglichen hatte, dann verstand er, weshalb der Waffenmeister des Herzogs ein einsamer und verschlossener Krieger geworden war. Ein Mann, der sich nicht mit dem Zweitbesten zufrieden geben wollte, weil er einmal das Wunder absoluter Vollkommenheit kennen gelernt hatte. Er konnte es ihm nachfühlen.
»Graciana ...«
Niemand hörte seine Stimme. Ein paar Regentropfen hatten sich in den Kamin verirrt und zerplatzten zischend in der Glut.
»Schmeckt Euch das Essen nicht? Es ist besser als alles, was die Männer in dieser Burg erhalten! Ihr seid recht anspruchsvoll!«
Der hörbare Vorwurf, der durch die beleidigte Stimme der drallen Magd klang, ließ Graciana aufschrecken. Wie üblich saß sie in der Fensternische und starrte über die Burgmauern hinaus auf die Wipfel des endlosen Forstes, an dessen Rand sich St. Cado erstreckte.
Es war immer dasselbe Bild. Ein grünes, weites Meer, dessen Farbe sich den Launen des Novemberwetters anpasste. Matt, fast schwarz und düster, wenn Regenwolken darüber hinwegsegelten, tiefgrün und samtig im seltenen Sonnenschein. Graciana hatte noch nie in ihrem Leben die Muße gehabt, solche Beobachtungen zu machen. Die absolute Untätigkeit, zu der ihre Lage sie zwang, zeigte indes überraschende Vorteile.
Sie hatte nichts anderes zu tun, als nachzudenken. Über sich selbst, ihre Lage, über die Dinge, die sie erlebt und durchlitten hatte. Über den verblüffenden Wandel, den ihr Leben genommen hatte, seit sie Paskal Cocherel die niederschmetternde Tatsache ihrer Blutsverwandtschaft ins Gesicht geschleudert hatte – womit sie ihn eigentlich hatte verletzen wollen.
Immer noch stand diese Szene vor ihren Augen: Die schweren Lider über den gelben Falkenaugen hoben sich in unverhohlener Verblüffung. In absolutem Erstaunen hatte er sie betrachtet, und zum ersten Mal sah Graciana eine Gefühlsregung auf seinem Gesicht.
»Vater?«, hatte er schließlich wiederholt.
»Keiner, auf den ich sonderlich stolz wäre«, hatte sie ihm zornig entgegengeschleudert. »Hat es Euch Vergnügen bereitet, Graciana de Cesson zu missbrauchen? Ihr habt die Familie meiner Mutter bis auf die letzte Magd massakriert und vernichtet!«
»Nein, verdammt! Ihre dumme Magd habe ich ihr gelassen«, fuhr der verblüffte Söldnerführer sie an, der plötzlich und entgeistert in den gelben Augen des Mädchens und der herausfordernden Haltung sein eigenes Spiegelbild erkannte.
»Wie großzügig«, hatte Graciana gehöhnt. Was hatte sie schon noch zu verlieren? »Erwartet Ihr Dankbarkeit für diese Großzügigkeit? Oder Dankbarkeit, dafür, dass Ihr meine arme Mutter am Leben gelassen habt, anstatt ihr mit einem gezielten Schwertstreich die Kehle durchzuschneiden, als sie Euch zu langweilen begann? Sie hat Euch dafür gehasst, wenn es überhaupt noch eine Steigerung für ihren Hass gegeben haben sollte. Es war so viel Galle, dass sie auch noch ihre Tochter damit füllen konnte! Seid verflucht, Paskal Cocherel! Verflucht von allen Seelen, die Ihr jemals zerstört habt!«
Es war, als sei ein Damm gebrochen, als könnte sie einfach nicht mehr aufhören. So wie sie verletzt worden war, wollte sie verletzen – denn die Unsicherheit in Paskals Augen schien anzudeuten, dass sie den einzigen schwachen Punkt dieses Mannes entdeckt hatte.
Gordien war es schließlich gewesen, der diesem Auftritt ein Ende machte. Er schlug ihr mit der Hand so hart über den Mund, dass ihr Kopf gegen die Eisenstange prallte und sie halb ohnmächtig in ihren Fesseln zusammensank. Aber sie war noch so weit bei Bewusstsein, dass sie den erbitterten Streit der beiden Männer vernahm, den natürlich Paskal Cocherel für sich entschied.
Danach hatte man sie losgebunden und in diese Turmkammer geschafft, in der es immerhin ein Bettgestell, einen Hocker, einen Wasserkrug und ein paar Decken gab. Durch die drei schmalen Fensternischen pfiff der Wind auf einer Seite hinein und auf der anderen hinaus. Aber es gab einen winzigen Söller mit einem Abtritt, und dreimal
Weitere Kostenlose Bücher