Graciana - Das Rätsel der Perle
empfinden sollte, von dem er wusste. Dass er es nicht fertig brachte, Graciana zu foltern, führte er weniger auf eine milde Regung als auf die Tatsache zurück, dass sie mit ihm verwandt war. Er ahnte instinktiv, dass es nichts gab, was diesem Dickkopf etwas entreißen konnte, was er nicht sagen wollte.
»Nimm dir nicht zu viel heraus, Mädchen!«, erwiderte er schroff. »Wenn du auf väterliche Gefühle baust, täuschst du dich gewaltig. Und was das Kreuz von Ys betrifft ...«
»Das ist zu einem Scherbenhaufen geworden, den Mutter Elissa in alle Winde zerstreut hat!«, sagte Graciana boshaft. »Sie hat Euch so sehr gehasst, dass sie es lieber zerstört hat, als es in Eure Hände fallen zu lassen. Also gebt Euch keine Mühe, Ihr werdet es Euch ebenso wenig aneignen können wie Jean de Montfort!«
»Verflucht, Mädchen, weißt du nicht, was das bedeutet? Du könntest die Tochter des künftigen Herrn der Bretagne sein! Kein namenloser Bastard, sondern ein Edelfräulein von Rang! Ich könnte dich mit einem Edelmann verheiraten, vielleicht sogar einem Prinzen von Geblüt!«
Gracianas Lachen schnitt wie mit Messern, brachte ihren Vater zum Verstummen und ließ den Schwarzen Landry zusammenzucken. Es endete ebenso abrupt, wie es begonnen hatte.
»Wen wollt Ihr mit diesem Narrenmärchen täuschen?«, fragte sie bitter. »Euch selbst? Die Menschen in der Bretagne oder mich? Ich bin und bleibe ein Bankert, egal, welches ehrbare Mäntelchen Ihr mir umhängen werdet! Kein Mann von Ehre und Namen wird sein Leben mit der Tochter eines Schlächters verbinden, der seine Heimat in einen endlosen Krieg stürzt! Tötet mich, lasst mich verhungern, stürzt mich vom Turm oder schlagt mir den Kopf ab. Es ist mir egal. Von Euch wünschte ich mir nur einen väterlichen Gefallen: Lasst mich in Frieden!«
Die letzten vier Worte spie sie dem Söldnerführer förmlich entgegen. Er erstarrte. Noch nie hatte es ein Mensch gewagt, ihm so freimütig und ohne jede Spur von Furcht die Meinung zu sagen. Und auch noch solche Verachtung zu zeigen!
»Verflucht, was bildest du dir ein?«
»Nichts!«
Graciana sah zum Fenster hinaus und drehte den beiden Männern gleichgültig den Rücken zu. Ihre offenen goldblonden Haare lagen schmutzig, dunkel und strähnig über dem Umhang, den man ihr gegeben hatte, damit sie in ihren zerrissenen Kleidern nicht fror. Aber nicht einmal dieser erbärmliche Anblick konnte die Anmut ihrer Bewegungen, die Schönheit ihres Körpers und die Unbeugsamkeit ihrer Haltung zerstören. Man würde sie töten müssen, um sie zu brechen. Sie besaß den Mut, die Kraft und die Todesverachtung des Mannes, der sie gezeugt hatte.
Diese niederschmetternde Erkenntnis veranlasste ihren Vater zu einem lästerlichen Fluch, ehe er aus dem Raum stürmte. Der Schwarze Landry folgte ihm ein wenig gemächlicher. Graciana beachtete weder den einen noch den anderen, sie existierten nicht mehr für sie.
16. Kapitel
Würgend beugte sich Graciana über den stinkenden Abtritt. Sie musste krank sein, eine, andere Erklärung gab es nicht. Morgen für Morgen wachte sie mit dem schrecklichen Gefühl auf, dass sich ihr Magen von innen nach außen stülpte. Meist konnte sie sich gerade noch zum Abtritt schleppen, ehe sie sich übergab und schweißgebadet und völlig geschwächt wieder auf ihren Strohsack fiel. Es dauerte Stunden, bis sie sich erholte und wieder auf die Beine kam. Nur damit am nächsten Tag alles wieder von vorne begann.
Zitternd vor Erschöpfung wischte sie sich über den Mund und spülte sich die Galle mit einem Schluck Wein aus, den sie zielsicher durch einen der Fensterspalte spuckte. Wie bedauerlich, dass diese Lücken nicht breit genug waren, dass sie ihren Körper hindurchzwängen konnte. Sie verstand längst, was ihre arme Mutter zum Selbstmord getrieben hatte. Der Gedanke an gnädiges Vergessen hatte auch in ihrer verzweifelten Lage etwas höchst Verführerisches. Die Angst vor dem göttlichen Zorn wurde immer geringer, je weniger Hoffnung man verspürte.
An den Wänden entlangtastend, fand sie zu ihrem Bett zurück und ließ sich auf den schmutzigen Strohsack gleiten, der nach verfaultem Heu und ungewaschenen Körpern stank. Unwillkürlich erinnerte sie sich an ihr erstes Bad auf Lunaudaie. An wahre Fluten von warmem Wasser, in denen sie ihre schmerzenden Glieder ausstrecken konnte, an den Duft nach Lavendel und Blumen und nicht nach Verwesung und Dreck.
Aber da war auch die Erinnerung an die Schlafkammer im Kloster.
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