Graciana - Das Rätsel der Perle
möglicherweise aus diesem Kloster stammt?«
»Daran vermag ich ebenso wenig zu glauben wie an das Kreuz von Ys!«, erklärte Kérven trocken.
»Dann werde ich mich freuen, Euch des Gegenteils zu belehren«, erwiderte der Herzog.
Seit Jean de Montfort die Perle gesehen hatte, war er von dem Gedanken an das sagenhafte Schmuckstück förmlich besessen. Kérven bereute längst, dass er ihm das Kleinod gezeigt hatte. Er befürchtete, dass auch Graciana nur Mittel zum Zweck für den Herzog sein würde, falls sie wirklich in Rennes auftauchen sollte.
Doch die Hoffnung darauf wurde ohnedies mit jedem Tag geringer, obwohl Kérven nicht aufhören konnte, von Graciana zu träumen. Sie hatte ihn für alle anderen Frauen verdorben. Nicht einmal heute, am Tag des heiligen Martinus, den der Herzog in der großen Halle der Burg mit einem festlichen Bankett feierte, konnte er den Gedanken an sie entfliehen. Still und in sich gekehrt saß er an der Festtafel.
Mehr als ein neugieriges, schönes Augenpaar blickte immer wieder zu der athletischen Gestalt im azurblauen, goldbestickten Brokatwams hin. Der ärmellose, pelzgefütterte Mantel betonte die breiten Schultern, und auf den Haaren saß verwegen ein Barett. Allen Damen fiel der melancholische, freudlose Ausdruck in den Augen des Ritters auf, der mit seinen Gedanken weit fort zu sein schien.
»Man spickt Euch förmlich mit verliebten Blicken«, stellte der Bischof von Rennes griesgrämig fest, der an Kérvens linker Seite saß. »Es ist nicht gut, wenn ein Mann Eures Ranges noch keine Gemahlin besitzt!«
Kérven verschluckte sich fast an seinem Wein. »Wollt Ihr mir zur Ehe raten, Bischof?«
»Warum nicht?« Der geistliche Herr wischte sich die Finger am linnenen Tischtuch ab, wie es Sitte war, und winkte einem Pagen, seinen Weinpokal von neuem zu füllen. »Oder wollt Ihr der Grafschaft von Lunaudaie keinen Erben schenken, der die Ehren, die Ihr Euch erkämpft habt, weiterträgt?«
Kérven schüttelte verblüfft den Kopf. »Ich hatte bisher herzlich wenig Zeit, Zukunftspläne zu schmieden. Bis vor kurzem waren wir alle nur damit beschäftigt zu überleben, Eminenz!«
»Um so wichtiger ist es, dass Ihr diesen Fortbestand für Euer Lehen und Eure Leute jetzt sichert!«, erwiderte der Bischof.
Kérven schwieg, aber die Worte des Bischofs schlugen in seinem Bewusstsein heimlich Wurzeln. Sie kamen ihm wieder in den Sinn, als er sich von Ludo aus den Festkleidern helfen ließ und in den pelzgefütterten Hausmantel schlüpfte. Die feuchtkalte, klamme Luft der windigen Novembernacht schien durch alle Ritzen und Fugen der Burg zu kriechen.
»Geh zu Bett, Ludo!«, sagte er, dann trat er an den Kamin, wo die lodernden Flammen zu knisternder Glut herabgebrannt waren. Er legte den Arm auf den Sims und starrte nachdenklich auf die glühenden Holzreste.
Die Bilder erschienen wie von selbst vor seinen Augen. Graciana, wie sie mit energischer Hand die Burg von Lunaudaie in ein Heim verwandelte. Graciana, wie sie neben Fiacre de Mar aus dem Brauhaus trat und die säumige Magd schalt, der ein paar Hühner aus dem Pferch entflohen waren. Dann Graciana, wie sie ihn aus ihren bernsteinfarbenen Augen ansah, ehe sie die Lider schloss und seinen Kuss erwiderte.
Eine Gemahlin zu nehmen, hatte ihm der Bischof von Rennes geraten und dabei an eines der hochwohlgeborenen Fräulein gedacht, die rund um die Tafel saßen oder zum Hofstaat der Herzogin gehörten. Vermutlich hätte er entrüstet seine dicke Knollennase gerümpft, hätte er gewusst, dass es den Seigneur des Iles statt dessen nach einer Magd ohne Rang und Stand verlangte. Dass er sich in seinen schlaflosen Nächten einen Narren schimpfte, weil er viel zu spät begriffen hatte, dass er den Schatz, den er besaß, nicht würdigte.
Er war zwar neugierig gewesen, aber er hatte sich nicht wirklich darum bemüht, mehr über sie und ihr Schicksal zu erfahren. Es hatte ihm gereicht, dass sie da war, dass er sie in sein Bett ziehen und sich in ihr verlieren konnte, wenn ihm der Sinn danach stand. So wie an jenem verhängnisvollen Nachmittag, als er sie im Pferdestall mit ihrer eigenen Leidenschaft gedemütigt hatte.
Aber selbst, wenn das Wunder geschah und Jannik de Morvan ihre Spur fand, was wollte er dann tun? Sie wirklich zurückholen? Die Tatsache blieb bestehen, dass sie keine Frau von Rang und Namen war. Ein Kérven des Iles, der eine Magd liebte, würde sich im günstigsten Fall zum Gespött des ganzen Hofes machen ... Ging seine
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