Graciana - Das Rätsel der Perle
am Tag brachte ihr eine Magd zu essen.
»Ihr müsst essen, sonst werdet Ihr krank!«
Die Magd dachte nicht daran, das anhaltende Schweigen der jungen Frau einfach hinzunehmen. Sie setzte das Tablett mit den dampfenden Schalen energisch auf den blanken Holztisch und knallte den geschnitzten Löffel und – als Gipfel des Luxus – ein Mundtuch daneben.
»Es ist Ragout vom Hirsch, eingelegter Kalbsfuß und ein Stück Hasenbraten. Der Herr sagt, ich muss dafür sorgen, dass Ihr esst!«
»Tatsächlich?« Graciana hob die feingezeichneten Brauen und rümpfte die Nase. Seit wann interessierte es sie, was Paskal Cocherel befahl? »Andernfalls hat er dir was angedroht? Die Folter? Den Tod? Oder nur ein wenig Prügel?«
»Kein Wort davon hat er gesagt«, verteidigte die Magd den Burgherrn, der Gracianas neues Gefängnis noch nicht ein einziges Mal betreten hatte. »Aber er hat erfahren, dass Ihr das Essen nicht anrührt ...«
»Ich hab’ keinen Hunger«, murmelte Graciana, und es war schlicht die Wahrheit.
Der bloße Gedanke daran, etwas davon zu essen, bereitete ihr Übelkeit. Sie zog den viel zu großen, pelzgefütterten Umhang enger um die schmalen Schultern und sah wieder aus dem Fenster. Ein rechteckiges hohes Bild, das ihr den grauen Novembernebel zeigte, der sich wie graues Tuch über die Baumwipfel gelegt hatte.
Das Rascheln auf dem alten Stroh und das Zuschlagen der Tür verkündete, dass die junge Magd den Raum verlassen hatte. Wie üblich folgte das leise Knirschen, mit dem der eiserne Riegel von außen vorgelegt wurde, dann wurde das Klappern der Holzschuhe leiser, als die Magd die Wendeltreppe hinunterging.
Der würzige Duft der Speisen vertiefte Gracianas Unbehagen. Sie hätte etwas gegeben für einen kühlen Trunk. Für einen Schluck des reinen Quellwassers, das im Klostergarten von Sainte Anne in ununterbrochenem Fluss aus der steingefassten Quelle rieselte. In dem Krug auf dem Tablett befand sich vermutlich nur wieder der säuerliche, muffige Wein, von dem sie Kopfschmerzen bekam, sobald sie etwas davon trank. Am Ende tat sie es doch jedes Mal, weil der Durst übermächtig wurde. So, wie sie das Brot aß, das auf dem Tablett lag und das nach Asche und grobem Korn schmeckte.
Das neuerliche Knirschen des Riegels ließ sie verblüfft aufsehen. Seit Tagen war niemand anders bei ihr gewesen als die Magd, und auch jene nur zu fest bemessenen Zeiten. Weshalb kam sie zurück?
Ihre Hand mit dem Stück Brot sank schwach in den Schoß, als sie die beiden Männer erkannte, die unter dem niederigen Türstock der Pforte den Kopf beugten und sich wieder aufrichteten, als sie vor ihr standen. Anfangs hatte sie stündlich damit gerechnet, aber als tagelang nichts geschehen war, hatte sie gehofft, er würde sie meiden wie die Erinnerungen an Pest und Vernichtung.
Es hatte den Anschein, als habe sie sich getäuscht. Paskal Cocherel hockte sich auf die Kante des Tisches, verschränkte die Arme vor der breiten Brust und musterte sie unter mürrisch zusammengezogenen Augenbrauen. Der Schwarze Landry lehnte an der Wand neben der Tür. Von den Stiefeln bis zum Wams und den Handschuhen in nachtschwarzes Leder gewandet, das Gesicht unter dem dichten Bart vollständig verborgen. Nur die Höllenaugen glitzerten schwarz und unheilvoll.
»Das Kreuz von Ys!«, begann der Herzog von St. Cado ohne lange Vorreden. »Du weißt, was aus ihm geworden ist, soviel konnte ich in Erfahrung bringen.«
»Macht Euch keine Mühe«, meinte Graciana seufzend. »Ihr werdet es nicht finden, denn es existiert nicht mehr. Es war eine Sage, nicht mehr ...«
»Unsinn!«, rief der Söldnerführer. »Die alte Nonne war sehr mitteilsam, bis ich mit ihr fertig war. Ich weiß genau, dass jenes Kreuz seit undenklichen Zeiten in Sainte Anne verborgen lag.«
»Mit ihr fertig ...« Graciana wagte sich nicht auszumalen, was diese Worte bedeuteten.
Unwillen glitt über die Züge des falschen Herzogs. »Weshalb diese Sucht nach Einzelheiten? Es muss ein Zug deiner Mutter sein, dieses weinerlichen Weibes. Sie ist hinüber, und das sollte dir genügen!«
»Sie war die Tante dieses weinerlichen Weibes, habt Ihr das gewusst?«, erwiderte Graciana. »Die einzige Seele, die zu mir gehörte, außer Euch natürlich, und ich muss gestehen, dass mir diese Tatsache keine sonderliche Freude bereitet.«
Ihre gelassene und wohlgewählte Art sich auszudrücken reizte Paskal Cocherel bis aufs Blut. Er hatte noch nicht entschieden, was er für dieses einzige Kind
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