Grafeneck
es etwas, das ihn persönlich angeht. Ein Anruf aus der Dämmerung, eine Aufforderung stehen zu bleiben und sich umzudrehen. Rückwärts zu blicken auf etwas, das man immer geahnt hat und dem man nie ins Gesicht sehen wollte. Er muß es Stück für Stück wieder zusammenbauen. Und diese Kugel wird ihm dabei helfen.
Eigentlich sollte man den Fundort markieren, denkt Mauser. Für die Spurensicherung. Aber die finden da auch nicht mehr als ich. Klar ist jetzt jedenfalls, daß sie ihn hier oben erschossen haben, und irgendwie ist er dann in die Höhle gekommen. Schwarzer Anzug, Gminder KG.
Der Wind wispert in den Bäumen. Tief im Wald singen die Vögel. Es klingt schön. Es läßt an einen Frieden denken, den es gar nicht geben kann. Als könnte man sich vors Haus setzen und das Leben die Straße heraufkommen sehen. Eine Katze streunt im Hof. Ein Hänger wird beladen. Die Geräusche klingen hell und klar in der Abendluft. Das Leben liegt einfach und deutlich vor einem. Man braucht nur zuzuhören, zuzusehen, bedächtig die Hand auszustrecken, und alles kommt in Ordnung.
Vater ist oft vor dem Haus gesessen, hat in den Abend hineingedöst, Mauser neben ihm, hat den Uniformstoff gerochen und das Leder der Koppel und den alten Schweiß, der sich in seinem Vater eingenistet hatte, ein Schweiß, der Arbeit bedeutete und Pflicht und Ordnung. Als Mutter tot war, sind sie oft so gesessen, und Mauser hat immer geglaubt, daß alles wieder in Ordnung kommt. Was hat der Vater an solchen Abenden wohl gedacht? War da eine Wut, die in ihm hochkam? Eine Trauer, die er nicht bewältigte? Die Welt war zerstört, in der sie gelebt hatten. Nur daß ich das nicht gewußt hab, denkt Mauser. Nur daß ich gedacht hab: Wenn Vater da ist. Wenn nur Vater da ist. Ich hab nichts verstanden von den Vorgängen und dem, was sie da in Grafeneck machten. Nichts von den grauen Bussen. Nichts von dem Attest, das sie ausgestellt haben für Mutz. Nein, gegen Mutz. Mit dem sie gekommen sind, ein Papier, das sie Vater und Mutter vorlegten.
Mauser steht und lauscht.
Die Absperrung Waiblingers kommt ihm vor wie ein Bannkreis. Hier komm ich nicht mehr heraus, denkt er. Er hat den Schatz gehoben, er ist ein Schatzgräber auf der Suche nach den Rätseln der Vergangenheit, hier steht er und hat den Mächten der Dunkelheit ein Relikt entrissen, eine verrostete Kugel, eine verrostete Hülse. Er wird Licht hineintragen in diese Höhle aus Zeit. Er wird alles ableuchten und sich nicht vor den Schatten fürchten, die er aufstört.
Zu Hause badet er die Funde und bürstet sie sorgfältig ab. Unter dem Mikroskop könnte man sicher noch die Rillen und Kratzer entdecken, die die Kugel im Lauf der Waffe bekommen hat. Eine ballistische Untersuchung. Auf eigene Faust.
Je länger er das kleine Ding und die Hülse in den Fingern hält, desto mehr erhärtet sich sein Verdacht. Er geht in den Keller und schlägt Vaters Waffe aus dem Öltuch. Das Magazin ist voll, er nimmt eine Patrone heraus und geht wieder in die Stube. Dort, im Licht der Stehlampe, auf einem Wolltuch, liegen die Funde. Der Rost ist leicht zu lösen gewesen, aber sie sehen nicht aus wie neu. Natürlich nicht. Eine abgefeuerte Kugel sieht nie wieder aus wie neu. Sie hat ihren Zweck erfüllt, Wunder genug, daß sie gefunden wird dort, wo sie eingeschlagen hat. Eigentlich komisch, denkt Mauser, daß der Tod nicht alle Spuren tilgt.
Er hält im Lampenlicht die Patrone neben die Funde.
Das gleiche Kaliber.
Ein seltenes.
Sieben Komma sechs drei.
Es stammt aus einer alten P 04.
Sonst beruhigt es Mauser immer, wenn er Veronika beim Töpfern zusieht. Die Morgensonne strahlt hell in den Fenstern der Werkstatt. Er hat schlecht geschlafen, obwohl er einen ruhigen Schlaf hat, seit er älter ist. Immer, fällt ihm auf, sind Veronikas Hände dabei, etwas zu formen. Sie schafft Gestalten aus dem Nichts. Aus dem Ton, der in ihre Hände gerät. Sie hat Lust dabei, das merkt man. Noch nie hat er über den Ton nachgedacht, wie er zwischen den Fingern quillt und geknetet und auf der Drehscheibe zu einer Wand hochgezogen wird. Ich will eine Vase werden, kann er nicht sagen. Ich will ein Becher werden. Und dann wird er glasiert und gebrannt und steht da in seiner Gestalt, die ihm niemand mehr ändern kann. Er kann nur gefüllt werden, und auch das kann er nicht lenken. Jemand hebt ihn an den Mund und trinkt ihn leer. Jemand nimmt einen Stock und zerschlägt ihn. Wäre er nur nicht erst entstanden. Wäre er nur unterm
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