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Grafeneck

Titel: Grafeneck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Gross
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Töpfer zu etwas anderem geworden.
    »Woher weißt du eigentlich, was du machen willst?« fragt er.
    Er sitzt auf der Bank und schaut ihr zu. Sie hebt die Hände, und er sieht das Grau des Tons darauf. Eingetaucht in die Lust des Gestaltens, denkt er. Von irgendwoher kommen ihr die Gestalten, sie weiß es nicht.
    »Das weiß ich nicht«, sagt Veronika.
    »Du mußt doch wissen, was du machen willst.«
    »Nicht immer«, sagt sie und schaut zu ihm herüber, mit erhobenen Händen, auf dem Drehstuhl an der Töpferscheibe.
    »Hast ein Bild im Kopf?«
    »Warum willst du das wissen?«
    »Bloß so.«
    »Komm her. Gib mir lieber einen Kuß.«
    »Nein.«
    Was entsteht, und woher kommen die Formen? Schon als Kind haben ihn die Höhlen angezogen. In jedes Loch ist er gekrochen. Tropfsteine gab es zu sehen, Sinter an den Wänden, weiß und glitzernd im Licht, für das sie nicht geschaffen wurden. Woher?
    »Weißt, mein Vater hat die Nazis gehaßt.«
    »Wie kommst du jetzt darauf?«
    »Er war Polizist. Trotzdem hat er nicht verhindern können, was sie getan haben. Er hat darunter gelitten. Hat oft Zweifel gehabt, ob er als Polizist noch was taugt. Nachdem sie Mutz abgeholt haben, mein ich.«
    Veronika greift mit den Händen wieder in den Ton. Sie verbreitert die Öffnung, und er soll jetzt eine Schüssel werden.
    »Irgend etwas hast du doch«, sagt Veronika.
    »Nach dem Tod von Mutter war er nicht mehr der gleiche«, sagt Mauser.
    Er weiß nicht, was das werden soll. Er knetet seinen Ton, seinen Seelenton, in den unsicheren Händen und weiß nicht, welche Gestalt er ans Licht bringen wird. Albtraumgestalten. Aus der Dunkelheit kommend. Man sollte nicht soviel in Höhlen krauchen, denkt er.
    »Als sie die Juden abgeholt haben, hat er nichts dagegen gemacht. Vielleicht hätte er gar nichts machen können. Aber trotzdem.«
    »Du hast ihn sehr gern gehabt«, sagt Veronika.
    »Er hat mir immer gesagt, daß es zwischen Recht und Unrecht einen scharfen Grat gibt. Der trennt das eine vom andern. Immer hat er es geschafft, den Grat zu finden. Hat er gesagt. Aber was er machen soll, wenn er das Unrecht gefunden hat und hilflos ist, es nicht ändern kann, es bloß dulden muß, das hat er nicht gesagt.«
    »Ich denke, das weiß keiner. Hast du eigentlich die Israeliten im Dorf gekannt?«
    »Natürlich. Aber ich hab nicht gedacht: Das sind Juden. Es waren eben einfach die Leute im Dorf. Ein bißchen anders waren sie, ja. Aber sonst. Das alte Frauenbad, davon hat mir Vater erzählt. Unten an der Lauter hat es gestanden. Die Frauen sind dort hingegangen, die jüdischen, und haben sich immer schrecklich geniert, weil das Wirtshaus in der Nähe war und alle, die einen Schoppen trinken wollten, daran vorbeikamen. Das war dort, wo jetzt der ›Pflug‹ steht. Und Vater hat seine Zigarren früher immer in Lindauers Zigarrenfabrik gekauft. Die haben ausgeliefert bis nach Übersee. Ist lange vor meiner Zeit bankrott gegangen. Aber den alten Lindauer, den hab ich noch gekannt. Der wohnte im Dorf.«
    »Bist du auf die Realschule gegangen?«
    »Die gab’s zu meiner Zeit nicht mehr. Aber das Gebäude steht noch.«
    »Ich weiß. Die hat doch Lehmann Bernheimer gegründet, oder? Der war auch Israelit.«
    »Wir haben mit den Juden gelebt. Vater hat immer gesagt, ohne die Juden ging’s uns nicht so gut, wie’s uns geht. Waren ein richtiges kleines Städtchen hier auf der Alb. Das haben die Hundersinger uns immer geneidet.«
    »Wieso die Hundersinger?«
    »Der alte Spruch. Der ist mir neulich wieder eingefallen. Die Busfahrer in Buttenhausen wüßten, wo’s qualmt.«
    »Den hab ich ja noch nie gehört.«
    »Das ist ein böser Spruch.«
    »Was ist damit gemeint?«
    »Grafeneck natürlich.«
    »Und was hat das mit den Busfahrern zu tun?«
    Mauser antwortet nicht. Statt dessen sagt er: »Die Synagoge haben sie in der Reichskristallnacht abgebrannt.«
    »Du weißt, daß ich diesen Ausdruck nicht mag.« Veronika dreht sich zu ihm um. Die Schüssel ist jetzt flach, sie verdickt den Rand. Die Schüssel hat eine schöne Form. Bereit aufzunehmen. Früchte. Brot. Zu bewahren und zu spenden.
    »Machst schöne Sachen«, sagt Mauser.
    »Das war keine Kristallnacht«, sagt Veronika gereizt.
    »Wie soll ich dann sagen?«
    »Reichspogromnacht. Es war der Beginn der Judenverfolgung.«
    »Wie man’s nennt, ist doch wurscht. Kristallnacht, das hat was Geheimnisvolles. Kann nicht auch das Böse geheimnisvoll sein? Auch Leichen können geheimnisvoll sein. Ein toter Mensch, den

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