Grafeneck
Licht.
»Ab hier fahren Sie allein weiter!« ruft er aus dem Nichts. Aber das ist natürlich nur ein Scherz.
Als sie wieder herausfahren aus der Unterwelt, liegt der Ort warm im Waldlicht.
Die Wasserfahrt hat gutgetan. Mauser schlendert umher und steigt die Kehren hinauf. Manchmal muß er einem Auto ausweichen. Oben auf dem Höhlenberg sitzen manche und haben ein Feuer entfacht, grillen Würste am Spieß. Der Riffkalk steht in dem mähnigen Gras an, Mauser geht quer zum Hang und setzt sich auf einen Stein. Der Stein ist warm von der Sonne. Mauerpfeffer wächst in den Ritzen, zähe Polster von Flechten und Moos, Fingerkraut noch ohne Blüten. Er holt eine der dünnen Zigarren, die er gerne raucht, aus der Jackentasche und zündet an. Langes, dünnes Format: Panatela. Bläst den Rauch ins Licht.
Mauser schaut hinüber zu einem Paar, das im Gras sitzt. Er denkt an Veronika. Der Mann hat sich ins Gras gelegt, die Frau schaut umher. Als der Mann sich aufrichtet, heißt sie ihn stillhalten und streicht ihm die Halme vom Hemd, mit geübten Händen vom vertrauten Männerrücken, zupft sorgsam noch die letzten Fasern, während er schweigt. So ist es auch mit uns beiden, denkt Mauser. Vertrauter Männerrücken. Aber sie versteht mich nicht. Sie versteht Vater nicht. Ich verstehe ihn ja auch nicht.
Das Ungefähre dieses Ausflugs hat die Unruhe aufgelöst, mit der er losgefahren ist. Statt dessen kommt eine Traurigkeit herauf, die er nicht an sich kennt. Der Tote in der Höhle ist ein Trauerfall. Warum daran rühren? Er liegt schon fünfzig Jahre dort im Lehm, weshalb muß man nun alles ans Tageslicht zerren? Man muß es, um der Wahrheit willen.
Er will nicht an seinen Vater denken. Vater war immer da. Vater wußte immer, was richtig und was falsch ist. Vaters Pistole, denkt Mauser, hab ich jahrelang immer wieder hervorgeholt, auseinandergenommen, geputzt, geölt, zusammengebaut. War meine Art des Andenkens. Ein ganz anderes als die Steinhäufchen auf den Grabmälern. Ein ganz anderes als Rosenblätter. Kein Sentiment.
Niemand weiß sonst von Vater. Niemand kann sich erinnern, wie er war und was er getan hat. Wie er jeden Tag darum gekämpft hat, das Rechte zu tun. Wie er seine Arbeit ernst genommen hat bis zu einem Maß, das Mauser unverständlich war. Es war keine Arbeit: Er hat die Welt in Ordnung gebracht.
Ich glaube nicht, daß er jemanden erschossen hat.
Es war nicht seine Waffe.
Und jetzt ist er doch wieder bei diesem verdammten Rillenprofil angelangt. Er hat heute nichts gefrühstückt. Ist einfach so aufgestanden, eine Tasse löslichen Kaffees, und hat schon wieder dieses Profil vor Augen gehabt, ich kann es nicht mehr sehen, denkt er.
Aus dem Tal herauf rauscht das Wasser. Oben von der Fernstraße kommen immer neue Besucher an oder sind unterwegs in ihren Wagen zu anderen Zielen. Die Sonne steht hoch, man hat Geld im Beutel, im Tal unten lockt es wie Spielzeug.
Er wünschte, er hätte diese Leiche nie gefunden.
Er überlegt, wie es wäre, wenn er sich einfach nicht mehr damit beschäftigen würde. Niemand würde einen Zusammenhang mit seinem Vater herstellen und auf ihn zukommen mit Fragen oder Antworten oder Forderungen. Der Kommissar würde seine Arbeit tun, vielleicht würden sie herausfinden, wer der Tote war, vielleicht auch nicht. In ein paar Wochen könnte alles vorbei sein.
Aber er hätte immer Zweifel.
Er könnte die Pistole nicht mehr in die Hand nehmen. Sein Vater ist ihm fremd geworden, einen Vater gibt es, den er nicht kennt und vielleicht nie gekannt hat. Die Geschichte eines fremden Mannes. Damit kann ich nicht leben, weiß er. Aber wenn er jemanden erschossen hat, dann ist er auch fremd, wie soll ich ihn kennen, wie soll ich einen Polizisten kennen, der Recht von Unrecht scheidet und einen Juden hinrichtet, bei Nacht und Nebel im Wald.
Ich hab es gleich gespürt, denkt Mauser. Schon als ich die Leich gesehen hab, nein, schon als ich in die Lehmkammer gekommen bin, hab ich’s gespürt. Das dunkle Geheimnis. Das Unheil. Daß da eine Zeit bewahrt liegt, ein Schrecken konserviert, der mich entsetzen wird, heraussetzen aus meinem gewohnten Leben. Der mir nimmt, was ich hab. Die Toten soll man ruhen lassen, das war doch so gut wie ein Grab.
Nein, er kann nicht anders. Er muß es herausbringen, auf Gedeih und Verderb.
Er will diese Rillen nicht mehr sehen. Dieses zähe Gefangensein von der Aufgabe. Den Linoleumgeruch in der Schule. Die Stille dort. Die Spitze des Bleistifts, wenn er
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