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Grafeneck

Titel: Grafeneck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Gross
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Gefühl im Magen. Seine Hände zittern immer noch.
    »Vierhundert«, hört er sich sagen.
    »Sie wissen also auch nicht, was das Kreidekreuz bedeuten könnte? Wir haben es auf dem Rücken der Leiche gefunden, auf dem Anzug. Die Blutspuren verdecken es zum Teil, das heißt also, daß das Kreidekreuz schon vor der Erschießung auf dem Anzug gewesen sein muß. Vielleicht eine Art Ritual.«
    Waltz zuckt die Schultern. Kneift die Lippen zusammen und zieht die Luft durch die Vorderzähne ein. Das macht er nur, wenn er nervös ist. Waltz weiß was und verschweigt es, denkt Mauser. Den muß ich mir mal unter vier Augen vornehmen.
    Eugen legt seine Karten hin. »Ich bin weg. Das macht ihr untereinander aus.«
    Mauser hat das Spiel. Ein hohes Risiko, das er da eingeht. Er nimmt den Dapp auf und schaut ihn an, bevor er ihn aufdeckt. Der zweite Binokel ist nicht darunter. Er kann nicht einmal eine Familie melden. Das ist in die Hose gegangen, denkt er.
    Greving scheint von Grafeneck noch nichts zu wissen. Sonst hätte er das in diesem Zusammenhang erwähnt.
    Den interessiert ja alles. Aber diese Geschichte bekommt er nicht zu hören, denkt Mauser, jedenfalls nicht hier und nicht von uns. Früher oder später wird er darauf stoßen, sicher. Aber auch von denen lebt kaum noch jemand. Nur so damals Achtjährige, denen die Schwester geholt worden ist. Die können nicht viel sagen.
    »Schippen ist Trumpf«, sagt Mauser.
    Greving schaut sie wieder der Reihe nach an. Er hat seine Brezel aufgegessen und nippt an dem Wein. Vielleicht muß ich den doch um Hilfe bitten, denkt Mauser. Wenn ich mit dem Rillenprofil nicht weiterkomme. Ballistische Untersuchung. Vaters Pistole. Vielleicht muß ich irgendwann doch damit rausrücken. Vielleicht steck ich dann in Schwierigkeiten, weil ich die Ermittlungen behindert hab oder Beweismittel unterschlagen. Aber darum geht’s mir nicht. Mir geht’s darum, daß Vater nichts damit zu tun hat. Nicht einen Juden erschossen. Das könnte ich nicht ertragen. Er schüttelt den Kopf und nimmt einen Schluck Most. Ihm ist übel. Die Hände zittern, er hält die Karten unter den Tischrand, damit man es nicht sieht.
    »Schaut schlecht aus bei dir, oder?« sagt Eugen und lacht. Hustet schleimig. »Du kannst deinen Arsch mit Tinte färben, dann brauchst keine Hose!«
    »Du immer mit deinen Sprüch«, sagt Mauser.

10
    Er schiebt das Moped aus der Garage. Die Seitenkoffer sind angeschlossen, die Zündkerzen frisch gereinigt, das Wetter ist trocken und mild. Ausflugswetter. Mauser muß ein bißchen in der Gegend herumfahren, allein. Eine Unruhe treibt ihn, er kann nicht zu Hause sitzen und nichts tun. Er kann auch nicht in der Schule sitzen über dem Mikroskop und Rillen zeichnen. Manchmal verschwimmt ihm alles vor den Augen, und er weiß nicht, ob er sich auf seine Zeichnung verlassen kann. Welcher Kratzer ist wichtig und welcher zufällig? Das ist eine verdammte Fitzelarbeit, und er hat genug davon. Zwar braucht er einen eindeutigen Beweis, oder Gegenbeweis, daß die Pistole die Tatwaffe ist, aber er ist sich nicht sicher, daß er den erbringen kann. Das Rillenprofil wird immer mehr zu einer obskuren Botschaft, wie der Fraßgang eines Buchdruckers im Totholz. Er sitzt da und versucht sie zu entziffern, darf nicht daran denken bei jeder Rille, jeder Riefe, die er abzeichnet, was davon abhängt. Gut möglich, daß er beim Vergleichsprojektil, später, wenn er aus der Pistole einen Schuß abgefeuert haben wird, die Ähnlichkeiten hineindeutet, unaufmerksam ist, weil er weiß, wie das Profil aussehen soll. Das darf ihm nicht passieren. Er muß Schritt für Schritt vorgehen, wie er es immer tut. Es fällt ihm schwer.
    Heute muß er mal raus aus allem. Er zieht den Reißverschluß seiner Lederjacke zu, setzt den Helm auf und zieht die Handschuhe an. Als er fertig ist, fühlt er sich wie ein Panzerfahrer in seiner schußsicheren Ausrüstung, gewappnet wie ein Ritter. Der Nachbar fährt im Trecker vorbei und grüßt ihn. Mauser hebt die Hand. So kennen sie ihn ja, den Alten, der mit dem Moped herumfährt, der an solchen schönen Tagen einen Ausflug macht und allein durch die Gegend streunt, und jetzt ist er auch noch der, der beim Krauchen in den Höhlen eine Leiche gefunden hat.
    Er steigt auf und steckt den Schlüssel ins Schloß. Spatzen zirpen vom Dach. Die Sonne scheint ihm auf den Rücken und wärmt das Leder. Dann dreht er den Schlüssel, das grüne Leerlauflämpchen leuchtet auf. Drückt auf den Starter, der Motor

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