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Grafeneck

Titel: Grafeneck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Gross
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Schließlich hat sie immer versucht, ihn zu verstehen. Die Leiche ist ihm aufgeladen, er muß das Rätsel lösen, es geht um seinen Vater, und Veronika hat damit nichts zu tun. Das ist eine Mauser-Sache. Eine Familienangelegenheit. Eine Frage von Recht und Unrecht.
    Zu Hause holt er die Waffe aus dem Kellerversteck. Sie fühlt sich an wie immer, aber zugleich ist sie ein Botschafter der Vergangenheit, ein Fossil, das plötzlich ins Heute gehört, weil es Kunde gibt vom Damals. Er könnte fast vergessen, daß es die Waffe seines Vaters ist. Man sieht ihr nichts an, sie ist ein bloßes Gerät. Nur das Wissen um die Geschichte macht sie zu einem Andenken. Und es sind Menschen, die die Geschichte erzählen müssen. Sie selbst ist stumm.
    In der Garage lehnt Mauser zwei alte Latexmatratzen gegen den Holzpfeiler, der die Garage trägt. Dann wirft er den Motor seines Mopeds an, der Lärm soll den Schuß übertönen. Er dreht am Gasgriff, jagt den Motor hoch. Das bullernde Tuckern wird zu einem Dröhnen und erfüllt den ganzen Raum. Dann zielt er mit der Pistole auf die Matratzen, so daß der Schuß den dahinterliegenden Pfeiler treffen muß.
    Er drückt ab.
    Der Schuß kann für eine Fehlzündung gehalten werden.
    Seit langem wird die Waffe erstmals wieder benutzt. Seit fünfzig Jahren? Seit der Tote in der Höhle erschossen wurde?
    Mauser stellt den Motor ab und schiebt die Matratzen beiseite. Der Schuß ist durch beide hindurchgegangen und hat den Pfeiler getroffen. Das Projektil ist nicht tief ins Holz eingedrungen, mit einem Taschenmesser kann er es vorsichtig herauslösen. Er wägt die Kugel in der Hand.
    Jetzt wird sich’s zeigen, denkt er.
    Er nimmt die Kugel mit hinauf in die Stube. Ihm graut davor, die Arbeit mit dem Rillenprofil ein zweites Mal zu machen. Trotzdem fährt er gleich in die Schule und setzt sich vor das Mikroskop. Die Stunden vergehen langsam. Draußen singt eine Amsel, auf der Talstraße ist wenig Verkehr. Gegen Abend geht ein Schauer nieder, er sieht die Tropfen als silberne Strähnen auf den Fenstern. Absichtlich hat er das Profil der ersten Kugel, die er über der Höhle gefunden hat, nicht zum Vergleich danebengelegt. Er will möglichst unvoreingenommen herangehen.
    Die Ungewißheit bleibt sowieso, ob er sorgfältig genug gearbeitet hat, ob nicht ein zufälliger Bleistiftstrich das Ergebnis verfälscht. Das ist doch keine Methode, denkt er. Aber was die Polizei mit Computern macht, das muß doch auch dem bloßen Auge sichtbar sein. Es ist die einzige Möglichkeit, die ich habe. Wenn ich nicht die ganze Sache dem Kommissar übergeben will. Und das will ich nicht.
    Schließlich ist es getan. Er hat nicht so sorgfältig gearbeitet wie bei der gefundenen Kugel, aber diesmal hat er auch eher gewußt, worauf es ankommt. Draußen ist es dunkel geworden, das Licht der Neonleuchte an der Decke löscht die Wirklichkeit aus. Er legt die beiden Blätter mit den Profilen nebeneinander. Seine Hände zittern. Die Augen brennen ihm. Der Vergleich ist ein letzter Schritt: Er kann nur hoffen, daß die Profile charakteristisch genug sind, um eine Ähnlichkeit jenseits aller Zufälligkeiten aufzuweisen.
    Als er aber die Blätter vor sich liegen hat, erkennt er es sofort. Die Profile sind identisch. Die Zufälligkeiten sind als solche leicht auszuscheiden; charakteristische Rillenanzahl, Verdickungen, Kratzer, alles gibt ein eindeutiges Muster, das der Vergleich deutlich zutage fördert. Ein Strichcode wie im Supermarkt. Eine klare Botschaft aus der Vergangenheit, in die Gegenwart geholt und entziffert. Zwar beruht das Ergebnis auf Handarbeit, aber Mauser ist sich sicher. Er hat jenes Maß an Gewißheit gewonnen, das er benötigt hat.
    Die Kugeln stammen beide aus der Pistole seines Vaters.
    Sein Vater war ein Mörder.
    Gut, es gibt noch andere Möglichkeiten. Vielleicht hat ein anderer mit dieser Pistole geschossen. Aber wem sollte sein Vater die Pistole geliehen haben, und unter welchen Umständen? Vielleicht wurde sie ihm gestohlen. Vielleicht hat er sie nur kurz aus der Hand gegeben, dort oben über der Höhle. Im Wald. Nachts, als sich die Schatten dort versammelt haben zu ihrer Verschwörung. Als das Opfer im Anzug mit dem Kreidekreuz auf dem Rücken sich niederkniet. Die Waffe wandert von Hand zu Hand. Der letzte nimmt sie und drückt ab. Vater empfängt sie zurück, heiß vom Schuß. Dann gehen sie auseinander, schweigend, jeder in sein Haus. Wer kümmert sich um die Leiche? Irgendwie wird die Leiche durch

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