Grafeneck
einen zweiten Zugang in die Höhle gesenkt, an einem Seil vielleicht, so muß es gewesen sein.
Lange sitzt er da. Auf der Talstraße huschen jetzt die Scheinwerfer der Autos. Die Blätter liegen auf dem Tisch im Labor und leuchten im Neonlicht. Mauser sitzt und kann sich nicht rühren. Jetzt hat er die Gewißheit, die er gesucht hat. Was sie bedeutet, begreift er nicht. Hilflos hat er die Hände auf dem Tisch liegen, ratlos rückt er die Blätter hin und her. Nie kann man solche Botschaften verstehen. Ob sie zu einem kommen auf Briefpapier an der Tür, wenn man eilig den Umschlag aufreißt und die Zeilen überfliegt, oder wenn man zwei Strichcodes entziffert und das Ergebnis stumm vor sich liegen hat im Neonlicht eines Schullabors – es ist nicht zu begreifen.
Wut packt ihn. Wieso hat er bloß diese verdammte Leiche gefunden? Wieso er? Vielleicht steckt auch darin eine Bedeutung. Vielleicht mußte es so kommen. Ein neues, fremdes Bild von seinem Vater. Und mit einem Mal hat man eine vollkommen veränderte Geschichte. Mit einem Mal hat man ein anderes Leben, gibt alles einen neuen, unerträglichen Sinn. Mit dem kann man nichts anfangen, die Geschichte paßt nicht zu einem und entstellt, kneift wie ein zu enges Kleidungsstück. Recht und Unrecht. Vielleicht war der Vater damals genauso verzweifelt, hilflos, ratlos gewesen. Vielleicht wußte er einmal nicht mehr, was das Rechte wäre. Vielleicht mußte er den Behinderten erschießen, um andere, vielleicht sich selbst zu retten. Die Geschichte muß ans Licht. Sie drängt ans Licht, eine Höhlengeburt. Mauser ist der einzige, der sie gebären kann.
Die grau gestrichenen Busse. Weiß vermalte Fenster. Dahinter sind sie gesessen, im Sonntagsstaat, Kreidekreuze auf dem Rücken, wußten nicht, was vorging mit ihnen, wußten nicht, wohin sie gebracht wurden. Experimente haben sie mit ihnen gemacht, dann getötet, vielleicht mit Giftgas, dann verbrannt in den Ofenbaracken neben dem Herrenhaus. Das kann sich Mauser vorstellen. Aber wie Mutz darin gesessen hat, Abschied nehmen wollte und aus dem Fenster winken, was nicht möglich war, wie sie Angst bekommen hat und in die Unterkünfte getrieben worden ist, wie der Oberarzt die neuen Namen auf der Liste abhakte – das ist ihm unvorstellbar. In Buttenhausen wußte man nichts. Bis die Öfen gequalmt haben und der Rauch in Marbach sichtbar war. Bis Gerüchte durchsickerten. Bis die Busfahrer in die Enge getrieben wurden und von dem berichteten, was sie gesehen hatten. Bis immer wieder der Arzt aus Zwiefalten auftauchte und Scheine ausstellte, Scheine, die »unwertes Leben« attestierten. Dann begann der Widerstand, die Proteste, in Buttenhausen machte sich der Bürgermeister auf und forderte ein Gespräch mit dem Leiter, Dr. Jürgen Schumacher. In der Zeitung stand es, mit Fotos vom Gelände. Sie machten weiter, aber die Wahrheit war bekannt. Bis es den höheren Stellen zu riskant wurde, sie schlossen die Anstalt über Nacht und vernichteten alle Unterlagen. Der Leiter ist geflohen, alle Beschäftigten wurden abgezogen, das Kriegsende rückte näher. Und jetzt kennt Mauser einen der Namen: Hochstetter.
Das ist alles nicht zu begreifen.
Man kann nur hingehen und sich die Gedenkstätte anschauen. Ja: versuchen, der Vergangenheit zu gedenken. Der Ort ist zwar der damalige, aber leer wie eine Hülle. Man kann es sich vorstellen und sein Wissen zu Bildern werden lassen, aber verstanden werden konnte es nur damals, als es geschah. Da war Mauser acht Jahre alt.
Er fährt mit dem Motorrad nach Marbach. Das Wetter ist warm, Schauerwolken treiben am Himmel. Die Wälder sind noch immer licht, man kann durch sie hindurchsehen auf die vom dürren Laub braunen Hänge. Er biegt auf die Straße nach Münsingen ab und sieht zwischen den Bäumen das alte Herrenhaus liegen. Ein zweiflügeliger, vierstöckiger Bau mit weithin sichtbarem Kupferdach. Die Straße führt an Pferdeweiden vorbei und zeigt dann den Wegweiser: Gedenkstätte Grafeneck. Ein kleiner Steig führt durch den Buchenwald auf die Anhöhe hinauf. Wie zu einem Ausflugsziel. Am Anfang der Allee liegt die Gedenkstätte, am Ende geht es durch ein Tor zum Schloß, in die einstige Euthanasieanstalt. Jetzt sind wieder geistig Behinderte dort untergebracht, unter ärztlicher Betreuung, mancher steht an der Straße und wartet auf Besucher, denen er eine Münze für einen Kaffee abschwatzen kann. Eine psychiatrische Klinik wie viele. Eine Allee führt auf das Herrenhaus zu, ein
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