Grafeneck
Mauser schaut sich die Papiere auf dem Tisch an. »Und du weißt vielleicht sogar, wer die Leich ist.«
»Was hast du mit der Leich zu schaffen? Dich treibt’s doch um, das seh ich.«
»Sag mir’s.«
Die beiden schauen einander an. Sie kennen sich schon lang. Sie schätzen einander, vielleicht besteht sogar etwas wie Freundschaft zwischen ihnen. Aber Mauser ist ein Eigenbrötler, ein sonderbarer Kauz. Waltz versteht nicht, was in ihm vorgeht. Er weiß nur, daß Mauser irgendwie an diesem Leichenfund festhängt und nicht loskommt.
»Du kannst dich sicher nicht mehr dran erinnern«, erzählt Waltz und Mauser setzt sich auf einen Stuhl. Waltz steht am Fenster und schaut hinaus. »Die Behinderten haben sie in den grauen Bussen abgeholt, vielleicht weißt du das noch.«
»Als sie Mutz geholt haben, war ich dabei. Und ich kann mich noch an einen Arzt erinnern, der war eine Woche vorher da und hat Mutz untersucht. Der muß damals das Attest ausgestellt haben.«
Waltz nickt. Darauf hat er gewartet. Der Arzt ist der Schlüssel zu allem. Zu allem, was Waltz weiß, und zu dem, was er nicht weiß, was er nur vermuten kann von dem, was damals geschehen ist. »Kennst du den Arzt?«
»Nein. Vater hat nie darüber gesprochen.«
Mauser sitzt auf seinem Stuhl wie bei einem Examen. Jetzt kommt’s raus, denkt er. Wieso hab ich Waltz nicht schon früher gefragt. Aber da gab’s die Leich noch nicht. Und die Kugel aus Vaters Pistole.
»Der Arzt, der heißt Hochstetter. Der war Leiter in Zwiefalten. Seine Patienten, die hat er einfach nach Grafeneck geschickt. Euthanasieprojekt hieß das damals. Aber Unterlagen, die findest du keine mehr. Die haben sie alle vernichtet, als sie Grafeneck zumachen mußten. Aus dem ganzen Land haben sie die Patienten hierher gebracht und in den Baracken ermordet, die Ofen damit geheizt.« Waltz beißt sich auf die Lippen. Vielleicht ist noch ein Rest der Wut da, der alten, verhärteten, nie herausgelassenen Wut. Was fragt mich der Kommissar nach meinen Gefühlen! denkt Waltz. Bei dieser Namenliste hab ich auch mitgeholfen, Mauser weiß das. Mutz’ Name steht darauf.
»Hochstetter. Wo ist der jetzt?«
»Du wirst es nicht glauben, Hermann: in Hundersingen. Der hat tatsächlich gewagt, sich hier niederzulassen. Nach Kriegsende, da hat man ihm den Prozeß gemacht, aber sie haben ihm nix nachweisen können. Den Leiter von Grafeneck hätte er nie gekannt, sagt er.«
»In Hundersingen? Sieh an.«
»Die Fenster der Busse, die haben sie mit weißer Farbe angestrichen, damit niemand hineinsehen kann. Im Sonntagsanzug haben sie die Behinderten auf die Straße gebracht. Keiner hat ja damals gewußt, was in Grafeneck passiert. Noch nicht. Ein paar Wochen später, da ist die Wahrheit durchgesickert. Und die Kreidekreuze, die haben sie auf den Sonntagsanzügen und den guten Kleidern auf den Rücken gemalt. Zur Kennzeichnung.«
Mauser nickt.
»Das heißt … die Leich ist ein Behinderter?«
Waltz zuckt die Schultern. »Ich sage bloß, woher das Kreidekreuz stammen könnte.«
Mauser begreift langsam. Wenn der Tote einer der Behinderten von damals ist, dann muß sein Vater mit Grafeneck zu tun gehabt haben. Dann hat er vielleicht mitgemacht, hat selber einen erschossen. Das ist unmöglich! denkt Mauser. Aber die Tatsachen. Er will sich nicht überzeugen lassen, und dann ist da eine Wut, mit der er die Wahrheit will, und dann eine namenlose Trauer, wieso das alles aufgestört wird.
»Mein Vater …«, beginnt er, besinnt sich dann aber. »Der Mörder muß dann wohl ein Nazi gewesen sein. Einer aus Buttenhausen?«
Waltz zuckt wieder die Schultern. Er schaut immer noch aus dem Fenster, als könnte er dort draußen die Antwort kommen sehen. Das ferne Zeichen. Worauf wartet Waltz? fragt sich Mauser plötzlich. Er wartet, daß etwas geschieht. Jeder hat sein Geheimnis, denkt er. Jeder wartet auf den Tag, an dem es herauskommt.
»Vielleicht ein Offizier«, sagt Waltz. »Oder einer aus Grafeneck. Vielleicht auch einer aus dem Dorf. Obwohl, in Buttenhausen gab’s ja keine Nazis.«
Mauser lacht verächtlich.
»Weißt noch mehr?« fragt er.
Waltz schüttelt den Kopf.
»Tätst mir’s sagen, wenn du noch mehr wissen tätst?«
»Das hat mich der Kommissar auch gefragt.«
»Du hast es ihm nicht gesagt?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Damit ich sagen kann, ich hab von nix gewußt.«
»Ist das so wichtig?«
»Es kommt immer drauf an, was einer gewußt hat und was nicht.«
»Früher oder später kriegen
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