Grafeneck
Hundersingen.«
»Ah so.«
»Dann brauch ich nur Lehmkammerhöhle in den Rechner eingeben –«
»Und er zeigt alle Dokumente an, in denen das Wort vorkommt.«
»Das könnte ich brauchen«, sagt Mauser und zieht seine Lederjacke aus.
»Leider sind wir noch nicht fertig. Ich habe genaugenommen gerade erst angefangen.«
»Mist!«
»Nehmen Sie halt den alten Index. Der ist nicht vollständig, ich weiß, aber er wird’s tun.«
Er überläßt Mauser die alte Schwarte, der blättert darin und sucht unter »L«. Er findet drei Eintragungen zur Lehmkammerhöhle. Er sucht die Berichte aus den Regalen zusammen und liest sich das Gefundene durch. Die Berichte schildern Befahrungen aus dem neunzehnten Jahrhundert, und einer liefert eine genaue Lagebeschreibung. Das reicht nicht. Nirgends ist von einem Lehmrutsch oder einer Verplombung die Rede. Er schaut noch unter »M« wie Münzloch nach, bis er jeden einzelnen Bericht herausgesucht und durchgelesen hat, vergeht eine Stunde. Einige Male wird eine Höhle in der Nähe des Münzlochs erwähnt, sie wird Kleines Münzloch genannt. Auch hier ist von keiner Erdbewegung die Rede, die eine Verplombung verursacht haben könnte. Ich sollte das alles in Ruhe durchschauen, sagt sich Mauser. Der Index ist nicht zuverlässig, und vielleicht gibt es noch woanders Berichte über die Lehmkammerhöhle. Eigentlich hab ich Zeit, sagt er sich. Nur diese Unruhe. Dieses Klemmen im Magen. Was soll das alles eigentlich? Er hofft. Er sucht umher und verliert sich im Durchsuchen der alten Albvereinsblätter. Er überfliegt Seiten, zieht wahllos Ordner aus den Regalen, weiß nicht mehr, wo er suchen soll. Geduld, mahnt er sich. Ich suche, sagt er sich. Früher, wenn ich gesucht hab, hab ich immer sorgfältig gesucht. Ich hab nicht gesucht, sondern gefunden. Die Spinnwirtel und Sohlennägel haben auf mich gewartet, und ich mußte bloß gründlich genug sein. Warum kann ich das jetzt nicht? Ich suche was, was Vater entlastet. Das ist es. Aber das geben die trockenen Untersuchungen von Gangprofil und Schichtenlage nicht her. Er kneift die Augen zusammen und merkt, daß er müde ist. Er hat schlecht geschlafen, er ist nicht richtig wach. Er geht umher wie im Traum. Wie viel Zeit hat er, bis der Kommissar zurückkommt?
»Und? Haben Sie was gefunden?«
»Nein. Da kann ich suchen, bis ich schwarz werd.«
»Jaja, das ist ein Heidengeschäft. Dafür braucht man Geduld.«
Mauser bedankt sich und steht ratlos an seiner Maschine. Das war ein Aufschub, den er sich gegönnt hat. Jetzt ist es vorbei, und er steht wieder vor der alten Aufgabe. Rillenprofil, Kreidekreuz. Er atmet einmal tief durch. Das war eine Ruhepause, merkt er. Es geht ein bißchen besser. Sich mit anderen Sachen zu beschäftigen, hat ihm Befreiung verschafft. Im Grunde ist die Frage, wie die Leiche in die Höhle gekommen ist, zweitrangig. Im Grunde ist es die Identität der Leiche und alles andere ebenso. Zuerst muß er wissen, ob die gefundene Kugel aus der Pistole seines Vaters stammt oder nicht. Davor graut ihm. Die mühseligen Stunden vor dem Mikroskop, das Muster aus Bleistiftstrichen auf dem Papier, der historische Code, den er entziffern muß und der eine so furchtbare Botschaft tragen kann. Er hat Angst davor. Aber es muß sein. Er hat damit angefangen, und jetzt muß er es zu Ende bringen.
Mauser nimmt auf der Rückfahrt einen kleinen Umweg. Er fühlt sich besser, und er will einfach noch eine Weile fahren. Das Hineinkippen in die Kurven tut ihm gut, er genießt die Beschleunigung und Massenträgheit der Maschine. Er riecht den Frühling, hat das Visier halb offen, genießt die helle Luft, die lichten Wälder. Es ist gut, zu fahren und nichts zu denken. Früher hätte er um diese Zeit einen Ausflug gemacht, eine Ferienfahrt irgendwohin mit dem Tankrucksack voller Brote und die Fotokamera dabei. Veronika wäre zu Hause geblieben und hätte Schalen und Vasen erschaffen. In der Dämmerung wäre er heimgekehrt und bei ihr vorbeigefahren, hätte ihr einen Kuß auf die Wange gegeben, sie hätte Tee gekocht, und sie wären in der Stube zusammengesessen, und dann hätte er erzählt, was er erlebt hat. Aber Ausflüge wie nach Wimsen kommen jetzt nicht mehr in Frage. Und das abendliche Heimkommen zu Veronika auch nicht mehr. Es wäre falsch, es wäre peinlich. Es wäre wie ein Theaterstück, das sie aufführen würden: Er wäre allein mit seinem Geheimnis. Manchmal fragt er sich, weshalb er Veronika nicht alles erzählen kann.
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