Grafeneck
schmiedeeisernes Tor steht offen. Man kann um das Gebäude herumgehen, ein Spielplatz ist auch da, man kann sich ins Begegnungscafé setzen und dort mit den Insassen zusammen etwas trinken, man kann die Vögel in den Bäumen hören und weißbekitteltes Personal aus der Tür treten sehen. Mauser kennt das. Jedes Jahr am Geburtstag von Mutz kommt er hierher.
Heute zieht es ihn dorthin, er weiß nicht weshalb. Er hält am Anfang der Allee und stellt das Motorrad ab. Nimmt den Helm ab, geht die paar Schritte zum Mahnmal hinüber. Ein Gedenkstein ist aufgestellt, eine Namenliste in einem Plastikkasten wetterfest ausgelegt. Mauser tritt an den Kasten heran.
Er greift hinein und blättert.
Die Liste ist alphabetisch geordnet, er findet den Namen.
Therese Mauser. Geboren 1924. Gestorben 1944 in Grafeneck.
Während sie dort war, hatte die Familie keinerlei Nachricht bekommen. Nicht einmal der Tod wurde ihnen mitgeteilt. Mutter hat es gewußt, sie hat die Gerüchte gehört, sie wußte, was der Besuch des Arztes und der Abtransport bedeuteten.
Mauser setzt sich auf die Mauer und schaut zwei Meisen zu, die sich im Buchengezweig jagen. Plötzlich ist ihm, als werde ein Tuch von der Welt gezogen. Als sähe er den Frühling und diesen Ort und sich selbst zum ersten Mal. Eine Helle tritt in die Umgebung, die er nicht kennt. Eigentlich, denkt er. Eigentlich sieht sich das alles ganz anders an.
Er spürt, wie viel Trauer und Bitterkeit und Zorn dieser Ort für ihn bedeutet hat. Er spürt, wie die Vergangenheit hier gelebt hat, am Leben gehalten durch sein unversöhnliches Gedenken. Er versteht auf einmal, daß das Leben weitergegangen ist, während er hier Jahr für Jahr herkam und gelitten hat.
Eigentlich ist die ganze Geschichte längst vorüber, denkt er.
Eigentlich. Aber nicht für mich. Mir hat immer ein Abschluß gefehlt. Eine Tat, mit der ich die Sache beenden könnte.
Vielleicht hat Vater so etwas auch gefehlt. Er hat den Abtransport von Mutz nicht verhindern können. Vielleicht ist ihm das immer nachgegangen.
Was weiß ich eigentlich von ihm? denkt er.
Jetzt hat die Geschichte einen Rattenschwanz bekommen. Eine Fortsetzung mit einer Höhlenleiche, die niemand kennt, und einer Pistolenkugel, die aus der Mauserschen Waffe stammt. Vielleicht war das die abschließende Tat, die bisher gefehlt hat. Die Namenliste unter Plexiglas, der Gedenkstein, die Fahrt hier herauf durch den Wald können das nicht leisten.
Mit einem Mal sieht er es klar: Er hat immer handeln wollen. Mit einer Geschichte kann niemand etwas tun. Sie ist zu ihrem Ende erzählt, und man müßte sie neu erzählen, um sie fortsetzen zu können. Vielleicht ist Vater daran gescheitert. Vielleicht drängte es ihn nach einer abschließenden Tat, und es war ihm egal, ob er einen Menschen dabei erschoss. Einen behinderten Menschen, der vielleicht von all dem nichts wußte. Vielleicht war Vater ein Fremder, der mit einer ganz anderen Geschichte lebte als er, Hermann Mauser, und den niemand je wirklich gekannt hat.
Eigentlich braucht mich das alles nichts angehen.
Und dennoch läßt ihn der Verdacht nicht los. Die Gewißheit eines kleinen Geschosses aus Metall, das sich in den Erdboden gebohrt hat. Er weiß nicht, ob er seinen Vater verehrt hat. Geliebt hat er ihn. Festgehalten hat er an der Sicht der Welt, die er ihm vermittelt hat. Festgehalten daran, daß es immer möglich sein wird, Recht von Unrecht zu unterscheiden. Die Zeiten haben sich geändert, aber das Prinzip ist geblieben: Schuld ist etwas, das einem eindeutig zukommt. Schuld ist etwas, das man nicht immer vermeiden kann. Aber wer hilft den Menschen, mit der Schuld zu leben?
Nein, es geht nicht um Namen, um einen Namen auf einer Liste unterm Plexiglasdeckel.
Es geht um das Ende einer Geschichte.
Er muß mit seinem Vater zu Ende kommen.
Er geht die Allee bis zum Eingangstor, umrundet das Gebäude, folgt den Wegen durch den Rasen bis zum Café, ein lichter Glasbau mit einer kleinen Küche darin. Er setzt sich an einen Tisch und bestellt Kaffee. Aus der Jackentasche zieht er das Etui mit den dünnen Zigarren, die er gerne raucht. Schnüffelt den feinen Duft, pflückt eines der braunen Stäbchen mit Daumen und Zeigefinger heraus, steckt es zwischen die Lippen. Zündet an. Bläst den Rauch ins Licht.
Er hat die Pistole in seinem Gürtel stecken. Er hat sie mitgenommen, er weiß nicht, weshalb. Sie gehört zu der Geschichte, nach der er unterwegs ist. Es ist ein historischer Moment: Jetzt, gerade
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