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Grafeneck

Titel: Grafeneck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Gross
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mach ich schon selber.«
    Er fährt die Feldwege entlang. Er weiß, wo Mattes seine Äcker hat. Der Himmel bewölkt sich, das schöne Osterwetter ist vorbei. Wolken ziehen aus dem Westen heran, über die Kuppen und Waldreihen, verdüstern die Sonne. Von hier oben in den Feldern geht der Blick weit. Mauser hält am Wegrand und setzt sich auf eine Bank. Bildstöcke gibt es hier nicht, nicht einmal Feldkreuze. Man ist im Evangelischen. Trotzdem hat jemand unter diesem Baum eine Bank gebaut. Der Baum ist eine Linde. Stand früher an einer Wegscheide.
    Mauser holt sein Etui aus seiner Jackentasche und zündet sich eine der dünnen Zigarren an. Die Würze des Tabaks. Aschewürmchen. Die Sonne bricht durch die Wolken und wärmt im Genick.
    Er versucht, einen klaren Gedanken zu fassen, aber die Gedanken treiben ihm weg. Es ist tot im Kopf. Die Waffe in seiner Tasche ist lebendig geworden. Bisher war sie ein Relikt, ein Museumsding, das er im Keller verschloß und sorgsam pflegte. Er konnte durch sie an seinen Vater denken, der sie getragen hat, er war dadurch nah und zugleich weit weg, eine Figur in einer lieb gewordenen Geschichte. Aber jetzt ist sie lebendig geworden. Er trägt sie mit sich herum, sie ist in der Gegenwart angekommen und entfaltet eine eigene Macht. Sie bekommt das Tageslicht zu sehen, sie richtet sich auf Menschen, sie wirft bei einem Schuß die Hülse aus, ihre Stimme muß übertönt werden durch Motorengeräusch.
    Erbarmen, denkt Mauser.
    Nur so ein Wort.
    Weil keiner wissen kann, welche Schuld er trägt.
    Weil keiner wissen kann, wozu er fähig ist.
    Drüben im Feld zieht ein Trecker seine Bahn. Oder er fährt auf einem Feldweg, der von hier aus nicht zu sehen ist. Pflügt durch ein Erdschollenmeer. Ein fernes Zeichen, stumm und bedeutungslos. Über ihm dräuen die Wolken, die Ränder durchglüht von Licht.
    Erst nach einiger Zeit kommt ihm der Gedanke, das könnte Mattes sein.
    Er hat Lust, einfach hier zu sitzen, zu rauchen und die Gedanken wandern zu lassen, bis Mattes an ihm vorbeikommt. Da gibt es doch einen Spruch: Bis du die Leiche deines Feindes vorbeitreiben siehst. Ein Fluß, in den er geraten ist und aus dem er nicht mehr als der heraussteigt, der er war. Er versucht zu verstehen, daß es etwas Außergewöhnliches ist, was vorgeht. Etwas, das alle Gewohnheit aufhebt. Es fühlt sich an, als wäre das Leben stehen geblieben. Der Alltag liegt weit dahinten, alles gerät aus den Fugen und geht doch seinen ruhigen, eigenen Gang. Die Dinge selber sind harmlos. Selbst die Waffe ist nur ein Werkzeug. Aber das Gefüge löst sich auf. Jedes Ding bekommt ein Eigenleben, er ist umgeben von lauter Unberechenbarkeiten. Eine Bedrohung, eine überhelle Wirklichkeit, die ihn auslöschen kann. Als hätte er in ein grelles Licht geblickt und wäre geblendet, sähe Schemen und Schatten herumgehen und erkennte nichts wieder. Er ist nicht mehr als ein kleines, verlorenes Ich.
    Trotzdem, denkt er versonnen. Diese stillstehende Zeit: Das gibt Mut.
    Das hat eine eigene Kraft. Man kann aufstehen und Dinge ändern, die seit langem geändert werden müssen. Das gibt Luft zum Atmen. Das gibt einen Blick, denkt er, den man sonst nicht hat.
    Dann steigt er in den Wagen und fährt weiter. Er fährt dem Trecker hinterher, den er gesehen hat.
    Schon von weitem erkennt er, daß es Mattes ist.
    »Ja was, wie siehst du denn aus?« fragt Mattes vom Trecker herab. »Was weiß der Ochs, wenn Sonntag ist, hat ja keinen Anzug an.« Mauser ist ausgestiegen und winkt ihn her.
    »Hab einen Besuch gemacht«, antwortet Mauser. »Komm mal runter.«
    »Hast du mich gesucht?«
    »Ja, genau dich.«
    Mattes steht vor ihm. Der Trecker tuckert. Ein böiger Wind geht über die Flur hin. Niemand weit und breit. Sie sind allein.
    »Hab einen Besuch gemacht beim Hochstetter. Den kennst du doch, oder?«
    »Hochstetter?«
    »Der Doktor Fritz Hochstetter aus Zwiefalten.«
    »Ja so.« Mattes nickt und wird still. Er horcht in sich hinein, was diese Eröffnung wachruft. Dann schaut er Mauser über die Schulter in die Ferne. Kann ihm nicht in die Augen sehen. »Woher kennst du denn den?«
    »War nicht schwer, das rauszukriegen. Der hat mir gesagt, du wüßtest was über die grau gestrichenen Busse, du weißt schon: die damals nach Grafeneck gefahren sind. Du warst doch früher Busfahrer für die Gemeinde, oder nicht?«
    »Freilich.« Mattes hält den Blick in die Ferne gerichtet, als sähe er etwas nahen, das Mauser nicht sehen kann.
    »Du hast die Busse

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