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Grafeneck

Titel: Grafeneck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Gross
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herausbekommen, denkt Greving. Davon müssen die hier gewußt haben, denkt er und steckt die Ausdrucke in seine Manteltasche. Das kann mir keiner erzählen. Vielleicht sollte ich mir das Schloß einmal ansehen, Grafeneck, nur um zu wissen, womit man es zu tun hat.
    Bis kurz vor Kriegsende sind in Grafeneck Behinderte vergast und dann verbrannt worden. Der Leiter dieses Projekts hieß Dr. Jürgen Schumacher. Aus der Landesanstalt in Zwiefalten sind Behinderte abtransportiert und nach Grafeneck gebracht worden. In der Bevölkerung wurden die Behinderten aus ihrer Familie geholt. Menschenversuche haben stattgefunden, neue Kampfstoffe wurden erprobt, Nervengifte, wie lange ein Mensch in Eiswasser am Leben bleibt und solche Sachen. Da ist der erschossene Tote in der Höhle noch harmlos dagegen. Er hat keine Lust, so einen Fall zu lösen. Irgendeinen Nazi-Greuel aufzudecken, nach fünfzig Jahren, das ergibt keinen Sinn, denkt er. Nichts, was man davon nicht schon wüßte. Wahrscheinlich lebt der Täter gar nicht mehr, und die genauen Umstände lassen sich auch nicht rekonstruieren. Er könnte es als seine Arbeit tun, gewissenhaft und ohne innere Beteiligung, so hat er schon oft Fälle gelöst. Aber hier in diesem Dorf, auf der Albhochfläche, berührt ihn die Vergangenheit mehr als sonst. Er weiß nicht, weshalb. Er hat merkwürdigerweise gar kein Interesse daran, den Fall aufzuklären, jedenfalls nicht vollständig. Eigentlich könnten wir jetzt schon zufrieden sein, denkt Greving und geht hinaus, schließt seine Zimmertür ab. Wir haben einen unbekannten Toten, einen Nazi-Täter, ein Euthanasieprojekt, auch wenn viel daran noch Spekulation ist. Vielleicht erzählt uns irgendeiner, daß er irgendwann im Wald Schüsse gehört hat oder daß ein Behinderter spurlos verschwunden ist, vielleicht von braunen Uniformen, die im Dorf aufgetaucht sind und so weiter, und dann kennen wir die Stoßrichtung. Das reicht.
    Greving ist ein Mensch ohne besonderen Ehrgeiz. Er tut seine Arbeit, weil sie getan werden muß und weil die Verbrechen, die Menschen begehen, aufgeklärt, entlarvt, ans Licht gebracht werden müssen. Von der Gerechtigkeit der Gerichte hält er nicht mehr als andere. Das ist auch nicht seine Sache. Die letzten Gespräche mit den Tätern sind der einzige Lichtblick. Er lernt die Abgründe kennen, die niederen Instinkte, die Angst und die Hilflosigkeit, die Menschen treibt, einander das Leben zu nehmen. Er bekommt die Wahrheit an einem Zipfel zu fassen und kann sie hervorzerren, Stück für Stück. Indizien sind nichts weiter als Fallstricke, mit denen man den Täter zum Straucheln bringen kann. Solche Gespräche führt er gern, da bin ich mit dem Herzen dabei, denkt er, als er die Treppe zur Wirtsstube hinuntergeht. Mit dem Herzen. Als ginge es um Liebe. Vielleicht geht es um Liebe, Liebe zu den Menschen, Barmherzigkeit mit den Schwachen, die ihr Leben zerstört haben durch eine unbedachte Tat, Mitleid mit den Opfern, die Grausamkeiten haben erleiden müssen, denen niemand zu Hilfe kam, die gestorben sind in Not und Elend. Liebe? Seltsamer Gedanke.
    Beim Dorfpolizisten fängt er an.
    Der sitzt in seiner Stube und tippt an einem Bericht.
    »So, sind Sie wieder im Lande, Herr Kommissar?«
    »Guten Tag, Herr Waiblinger. Haben Sie unsere Neuigkeiten schon gehört?«
    »Neuigkeiten?«
    »Wir haben die Bedeutung des Kreidekreuzes herausgefunden. Und das Gesicht des Toten rekonstruiert. Mit dem Computer. Feine Sachen, die die Kriminaltechnik da hat.«
    »Aber Hinweise auf den Täter haben Sie noch keine?«
    »Wenn der Tote ein Behinderter war, der mit dem Abtransport nach Grafeneck zu tun hatte, dann vielleicht schon.«
    »Grafeneck? Was sagt man dazu? Und der Tote soll einer dieser Behinderten sein?«
    »Zumindest haben wir das Kreidekreuz auf seinem Anzug. Es könnte natürlich auch anders gewesen sein und der Tote trägt aus ganz anderen Gründen den Anzug und das Kreidekreuz.«
    »Natürlich, aus ganz anderen Gründen. Wie meinen Sie das?«
    »Vielleicht wurde ihm der Anzug unfreiwillig angezogen. Das gibt’s auch. Eine Art Ritual. Aber wenn der Tote ein Behinderter ist, dann spricht vieles dafür, daß der Täter aus dem Nazi-Umfeld stammt.«
    »Soweit ich weiß, sind damals die Behinderten nicht erschossen worden«, sagt Waiblinger und löst sich widerstrebend von seinem Bericht. »Die wurden alle nach Grafeneck gebracht und vergast.«
    »Das ist richtig. Trotzdem ist es eine Spur.«
    »Ich habe da übrigens eine

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