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Grafeneck

Titel: Grafeneck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Gross
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gefahren«, sagt Mauser leise und legt ihm die Hand auf die Schulter.
    »Einen davon.« Mattes nickt.
    »Du hast alles gewußt, oder nicht?«
    »’s stimmt wirklich: Es ist kein Ämtchen so klein, man kann sich nicht den Galgen dran verdienen. Weißt du«, sagt Mattes und schüttelt leicht den Kopf, »das war komisch damals. Irgendwie haben es alle geahnt, daß da was nicht stimmt. Aber keiner wollte es wahrhaben. Wir in Buttenhausen haben es doch auch gewußt.«
    »Aber du hast die Leut gefahren. Du hast sie gesehen und gewußt, wohin sie kommen. Hast damals auch Mutz gefahren?«
    »Nein, das war nicht ich. Ich hab mich schon gewundert, als sie die Busse rangekarrt und Fahrer gesucht haben. Als wir dann die Fenster weiß anmalen mußten.«
    »Wie hat es da oben ausgesehen?«
    »So wie heut. Nur waren da eine Menge Baracken. Später hab ich’s qualmen sehen. Das schon.«
    »Und? Wie bist damit umgegangen, all die Jahr?«
    »Gar nicht.«
    »Du hast eine Schuld, Eugen, ist dir das klar?«
    »Und? Was soll’s? Jeder hat irgendeine Schuld.«
    »Aber so eine Schuld prägt das Leben. Mensch, begreifst das nicht?«
    »Mein Leben ist so gewesen, wie es gewesen ist. Was kommst du daher und willst mir Schuld aufladen? Ich bin gut damit gefahren, bis jetzt.«
    »Du hast niemandem davon erzählt, oder nicht? Deiner Frau nicht. Deinen Kindern nicht. Du mußt es jemandem sagen. Sag’s mir.«
    Mauser schiebt die Hand in die Jackentasche und weiß, was nun kommt. Es ist unausweichlich. Vorhin, als er auf der Bank saß und gedacht hat, seine Gedanken treiben so weg wie Blätter auf dem Wasser, da hat sich heimlich etwas in ihm festgesetzt. Das bricht jetzt auf wie ein Sämling.
    Er schließt die Hand um den Pistolengriff. Die Geschichte zu Ende bringen. Wenn nicht Hochstetter, dann Eugen? Das ist Unsinn.
    »Was soll ich dir sagen?« Mattes runzelt die Stirn und schaut Mauser plötzlich in die Augen.
    »Daß du schuld bist. Daß du ein Verbrecher bist. Daß dein Leben nicht so ist, wie es sein soll.«
    »Dir? Bist du jetzt Pfarrer, oder was?«
    Mauser zieht die Hand aus der Tasche, langsam, als wäre er selbst noch gespannt, was zum Vorschein käme.
    »Was willst denn mit der Pistol?«
    »Begreifst es nicht, Eugen?«
    Mausers Blick ist jetzt ganz ruhig. Die Wut und die Hilflosigkeit haben sich verwandelt in eine tiefe Trauer, eine schlafwandlerische Sicherheit. Er glaubt zu wissen, was er zu tun hat, und er wird es tun. Aber in Wahrheit weiß er es nicht.
    Der Himmel hat sich bezogen, in der Ferne sieht man schon den Regen strähnen. Der Wind ist unruhig, vereinzelt fallen Tropfen.
    Er hebt die Pistole und setzt die Mündung Mattes an den Kopf.
    »Erbarmen brauchen wir, weißt, Eugen.«
    Mattes erstarrt, obwohl er keine Angst hat. Wie in der Kirche erfaßt ihn eine Andächtigkeit, er muß geschehen lassen, was nun geschieht, er gehört dazu und ist froh darum. Vielleicht geschieht nun etwas, das schon lang hätte geschehen sollen. Vielleicht hätte es sein Leben verändert. Er wehrt sich nicht.
    »Du bist nicht der, der das regeln muß«, sagt er.
    »Wir brauchen Erbarmen. Wir haben alle Schuld. Wir lügen alle. Verstehst das, Eugen?«
    Mauser sieht zu, wie sich sein eigener Finger um den Abzug krümmt. Mattes ist schuldig, aber er ist eine arme Sau gewesen. Ein Mitläufer. Die Schuld, die sein Vater auf sich geladen hat, ist größer. Den kann er nicht hassen. Mattes auch nicht. Mich selbst, denkt er, mich selbst müßte ich hassen. Mir selber die Mündung an die Schläfe drücken.
    »Gib’s doch zu«, sagt er leise, fast freundlich. »Sag’s nur einmal, daß es so ist.«
    »Willst mich sonst erschießen, oder was?«
    »Ich vergebe dir«, sagt er und lächelt, während er die Pistole herunternimmt.
    »Du hast mir gar nichts zu vergeben, Mauser.«
    Mattes schlägt ihm wütend die Hand mit der Pistole weg und wendet sich um, steigt wieder in seinen Trecker hinauf. Er rattert davon, Mauser bleibt stehen mit hängenden Armen.
    Ihm ist schwindelig. Er weiß nicht, was ihn da geritten hat. Wohin wandern seine Gedanken? Endlich hat er einen entlarvt, einen von den Schweigern und Mitläufern, die noch immer in den Dörfern leben, ohne daß einer sie kennt. Aber wissen tun es ja alle, denkt er. Man muß sie aufdecken, man muß mit der Schuld ans Licht. Sie ist Gift, denkt er und steckt die Pistole langsam ein, als traute er ihr nicht. Als könnte sie ein Eigenleben entwickeln. Ein Aderlaß, denkt er, wie früher. Das ganze Gift

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